Название: Gewachsen im Schatten
Автор: Annemarie Regensburger
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
isbn: 9783702233129
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„Ich weiß nicht wann, ich weiß nicht wo, ich weiß nicht wie, aber das weiß ich: Wenn ich in einer Todsünde sterbe, bin ich verloren für ewig.“
Kommt der Himmel? Der Gärtner umhüllt den ersten Nelkenstrauß mit Schleierkraut. Annatag. Kein Schleier dazwischen: für einen Augenblick Himmel.
Da, der Schatten eines Pferdes samt Reiter über dem für den Wintersalat vorbereiteten Beet. Woher kommt er? Wohin reitet er? Das Kind setzt sich auf den Rücken des Pferdes, schiebt den Reiter zur Seite. Lautlos verschwindet er im Schatten. Das Kind weiß noch nicht, dass man den Reiter nicht zur Seite schieben kann, dass es für Frauen keinen Platz im Sattel gibt. Nichts weiß es noch vom Herausschleudern aus jeder Sicherheit, vom Hinunterfallen ins Nichts, hinein in die bodenlose Angst, obwohl es jetzt bereits manches Mal vor Schreck erstarrt; vor allem, wenn es allein einen Mann sieht.
Das Kind wird lange Zeit dem Reiter nachlaufen, mitreiten, so gut und schnell es möglich sein wird. Es wird sich anstrengen, mitzukommen. Der Reiter auf dem Klosterdach wirft seinen Schatten.
Jetzt reitet das Kind schnell mit den drei Nelkensträußen zur „Gotl“. Die Mama war heute Morgen gut aufgelegt. „Kouf drei Sträuß und geah! Schluss iats mit’n Unfriedn.“
Im Frühjahr hat die Tochter von der Gotl geheiratet. Die Mama und die Kinder vom Tate sind zur Hochzeit eingeladen, nur die große Schwester nicht. Sie ist und bleibt Mamas lediger Balg. Der Balg der Magd, Vaters Seitensprung, ist auch nicht dabei. Nur die legal zur Welt gekommenen Kinder, ’s Hansele, ’s Hannele und das Kind.
Die große Schwester wundert sich, dass die Mama zwölf Leinenhandtücher mit gesticktem Monogramm der ersten Frau vom Tate aus dem großen Wäschekasten holt und als Geschenk für die Braut mit einer Schleife zusammenbindet. Die Mama ist entschlossen, die angeheirateten Familienbande endlich wieder zu normalisieren. Darum kommt sie mit vollen Händen zur Hochzeit. Der Wäschekastenschlüssel gehört seit dem Rausschmiss der Nale ihr. Lang hat ihr die Schwägerin diesen Rausschmiss nachgetragen, denn seither muss diese mit ihrer Mutter zurechtkommen. Auch das klare Nein der Mama zur Rückkehr ihres Mannes aus Hall hat jahrelang für Verstimmung gesorgt. Nun hat die Hochzeit der älteren Tochter von der Gotl des Kindes manches zurechtgerückt.
Das Kind auf den Stufen im Klostergarten ist längst ein Stück über alle Berge geritten; vor den Augen die Erinnerung an die Mama bei dieser Hochzeit. Die Mama trägt ein graues Kostüm, eine weiße Spitzenbluse und einen grauen Hut mit einem zarten, durchsichtigen Schleier vor den Augen. Für das Kind ist die Mama die Allerschönste, ist es das schönste Kleid, das sich später hinter den Schleier der Erinnerung schiebt, das sich immer wieder einmal vor die „Schreckensaugen“ der Mama schieben wird. Das Kind lächelt. Bei dieser Hochzeit hat dem Kind die Cremetorte geschmeckt. Zum ersten Mal im Leben eine Cremetorte, ansonsten zwei Mal im Jahr Cremeschnitte nach Tates Besuch.
Die Mama hat nur zum Streuselkuchenbacken Zeit. Die Zeit, die ihr übrig bleibt, dient sie auf dem Klosterfeld ab, auch für die drei Nelkensträuße.
Von den drei Nelkensträußen ist einer für die Gotl, einer für eine Tochter der Gotl, die Anna heißt, und einer für die alte Frau Anna, die Mutter des Bräutigams. Das Kind spürt ein Kribbeln im Bauch. Es hat Angst, in das neue Haus von Gotls ältester Tochter zu gehen. Warum? Vielleicht eine Vorahnung? „Nein, auf dem Pferd hab ich keine Angst“, summt das Kind vor sich hin.
„Was tramsch?“, fragt der Klostergärtner. „Da hasch die drei Sträuß zompt Schleierkraut.“
Das Kind erschrickt. Kein Reiter im Beet – davongeritten. Das Kind steht auf. Beim Hinausgehen sieht es ein Schneefeld wie ein großer Fisch in der Mitte der gegenüberliegenden Bergkette. Was macht ein Fisch am Berg? Ein Fisch ist nur im Wasser. Das hat das Kind in der Schule gelernt. Im Trockenen kann ein Fisch nicht überleben. Das Kind hat noch nie einen so großen, weißen Fisch gesehen. Im Dorfbach, in den es bei Wutanfällen hineingehängt wird, sind Ratten.
Ratten sausen dem Kind über die Füße, wenn es in der Nacht vom Haus durch den Vorstall zum „Patschklosett“ gehen muss. Ein schreckliches Gefühl, und dazu noch im dunklen Vorstall. Das Kind beginnt zu verhalten. „Bachelen“ darf es in den Nachttopf, der unter dem Bett steht.
Kürzlich mussten die Kinder sogar zwei Tage in Mamas großen Nachttopf „bachelen“. Dann die große Tat der Mama: Ein Tischlerschüler aus der Berufsschule im Kloster kommt und pfeift der großen Schwester, die inzwischen fünfzehn ist und einen festen Busen hat. Die große Schwester ist noch im Stall. Die Mama zieht rasch den Store am Fenster beiseite, der Inhalt des vollen Nachttopfs klatscht mitten in das Gesicht des jungen Mannes. Wau – weg ist er. „Nit schue wieder a Mannets“, hört das Kind die Mama sagen. Was heißt das, „nit schue wieder …“?
Wie überlebt der Fisch am Berg?
Warum geht der Fisch am Berg nicht ein?
Das Kind dreht sich noch einmal um, nimmt die Stufen im Klostergarten wahr und geht.
Viele Jahre später sitzt die Frau mit Schülern und Schülerinnen des Stiftsgymnasiums bei einer Lesung im ehemaligen Klostergarten – inzwischen wächst hier nur noch Gras – auf denselben Stufen und spricht über Texte und den Fisch. Der Fisch ist inzwischen zum Delfin geworden. Nur ein heißer Sommer vermag ihn etwas abzumagern. Ansonsten bleibt sein Bauch das ganze Jahr voll und weiß. Aus seinem Maul sprudeln Worte, immer wieder, immer wieder aufs Neue ein uraltes Wort: „kimpt“.
„Kimpt nit?“ Sie will – sie weiß gar nicht, dass sie will – doch sie muss das Haus zurückkaufen. Heute in der Nacht kauft sie es zurück. Sie lässt sich nicht davon abhalten. Es ist neu renoviert, ist sicher viel zu teuer, doch es ist ihr Haus. Das Haus, in das sie so oft gehen wollte. Sie musste es in größter Not verlassen, und als sie es endlich noch einmal betreten wollte, war es abgerissen, dem Erdboden gleichgemacht. Damals hat sie geweint, zornige Tränen. Niemand hat ihr gesagt, dass das Haus abgerissen wird. Jetzt betritt sie das Haus. Der Ruf der Nachbarin: „Aber da lejt ja der Stampfer drei“ kostet sie nur ein Achselzucken: „Und – dann liegt er eben drinnen!“ Er gehört zu ihrem Haus, hat immer dazugehört, obwohl sie sich nicht an ihn im Haus erinnern kann. Sie öffnet die Kammertür. Wie oft wollte sie diese Tür öffnen, noch einmal die Mama sehen; ein einziges Mal mit geschlossenen Augen, mit gefalteten Händen, mit Frieden um die Lippen – eine ganze Kindheit lang. Nicht dieses schreckliche Gesicht, sondern das Gesicht der Mama, der wirklichen Mama, wie sie war. Doch es kam nicht, nie mehr. Jetzt schaut sie hinein. Mamas Bett ist leer. Daneben liegt der Tate, friedlich, entspannt, zufrieden. Ein Lächeln um seine Lippen. Der Tate, der sich mit drohenden Bildern in ihr Leben eingemischt hat, obwohl er nicht im Haus war, liegt da. – Ich kaufe das neu renovierte Haus samt meinem Vater. Der Entschluss der Frau steht fest. Jetzt, heute, ist es so weit. Mehr als sechzig Jahre ist es her, seit der Vater das Haus verlassen musste.
Die Frau wacht auf, ein sattes Kribbeln im Bauch, der Tate aufgenommen, endlich mit ihr im Haus – „kimpt“.
Am See hören die Schwestern von weitem Glockengeläute. Die Kuhglocken erinnern an längst entschwundene Zeiten.
„Wie gern hab ich Kühe gehütet! Auf dem Feld hab ich träumen können, so lang ich wollte. Die Kühe haben ihr Futter selber gefunden und ich hab dem Zug zugeschaut, wenn er ganz unten im Tal vorbeigefahren ist. Ich hab mir immer gedacht, dass hinter dem Tschirgant die Welt anfängt, eine Welt, in der die Mädchen dasselbe tun können wie die Buben. Ich wollte ja so gern ministrieren.“
„Ich hab wie ein Mann arbeiten müssen. In der Früh, noch vor der Schule, bin ich mit der Mama in den Stall gegangen. Mit zwölf hab ich schon melken können. Ich hab der Mama auch bei der Geburt eines Kalbes geholfen. СКАЧАТЬ