Название: Gesammelte Werke von Gustave Flaubert
Автор: Гюстав Флобер
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027209903
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Um sich in seinem Handwerk »auf dem laufenden zu halten«, war er auf die »Medizinische Wochenschrift« abonniert, von der ihm einmal ein Prospekt zugegangen war. Abends nach der Hauptmahlzeit nahm er sie gewöhnlich zur Hand, aber die warme Zimmerluft und die Verdauungsmüdigkeit brachten ihn regelmäßig nach fünf Minuten zum Einschlafen. Das Haupt sank ihm dann auf den Tisch, und sein Haar fiel wie eine Löwenmähne vornüber nach dem Fuße der Tischlampe zu. Emma sah sich dieses Bild verächtlich an. Wenn ihr Mann nur wenigstens eine der stillen Leuchten der Wissenschaft gewesen wäre, die nachts über ihren Büchern hocken und mit sechzig Jahren, wenn sich das Zipperlein einstellt, den Verdienstorden in das Knopfloch ihres schlecht sitzenden schwarzen Rockes gehängt bekommen! Der Name Bovary, der ja auch der ihre war, hätte Bedeutung haben müssen in der Fachliteratur, in den Zeitungen, in ganz Frankreich! Aber Karl hegte so gar keinen Ehrgeiz. Ein Arzt aus Yvetot mit dem er unlängst gemeinsam konsultiert worden war, hatte ihn in Gegenwart des Kranken und im Beisein der Verwandten blamiert. Als Karl ihr abends die Geschichte erzählte, war Emma maßlos empört über den Kollegen. Karl küßte ihr gerührt die Stirn. Die Tränen standen ihm in den Augen. Sie war außer sich vor Scham ob der Demütigung ihres Mannes und hätte ihn am liebsten verprügelt. Um sich zu beruhigen, eilte sie auf den Gang hinaus, öffnete das Fenster und sog die kühle Nachtluft ein.
»Ach, was habe ich für einen erbärmlichen Mann!« klagte sie leise vor sich hin und biß sich auf die Lippen.
Er wurde ihr auch sonst immer widerwärtiger. Mit der Zeit nahm er allerlei unmanierliche Gewohnheiten an. Beim Nachtisch zerschnippselte er den Kork der leeren Flasche; nach dem Essen leckte er sich die Zähne mit der Zunge ab, und wenn er die Suppe löffelte, schmatzte er bei jedem Schlucke. Er ward immer beleibter, und seine an und für sich schon winzigen Augen drohten allmählich gänzlich hinter seinen feisten Backen zu verschwinden.
Zuweilen schob ihm Emma den roten Saum seines Trikotunterhemdes wieder unter den Kragen, zupfte die Krawatte zurecht oder beseitigte ein Paar abgetragener Handschuhe, die er sonst noch länger angezogen hätte. Aber dergleichen tat sie nicht, wie er wähnte, ihm zuliebe. Es geschah einzig und allein aus nervöser Reizbarkeit und egoistischem Schönheitsdrang. Mitunter erzählte sie ihm Dinge, die sie gelesen hatte, etwa aus einem Roman oder aus einem neuen Stücke, oder Vorkommnisse aus dem Leben der oberen Zehntausend, die sie im Feuilleton einer Zeitung erhascht hatte. Schließlich war Karl wenigstens ein aufmerksamer und geneigter Zuhörer, und sie konnte doch nicht immer nur ihr Windspiel, das Feuer im Kamin und den Perpendikel ihrer Kaminuhr zu ihren Vertrauten machen!
Im tiefsten Grunde ihrer Seele harrte sie freilich immer des großen Erlebnisses. Wie der Schiffer in Not, so suchte sie mit verzweifelten Augen den einsamen Horizont ihres Daseins ab und spähte in die dunstigen Fernen nach einem weißen Segel. Dabei hatte sie gar keine bestimmte Vorstellung, ob ihr der richtige Kurs oder der Zufall das ersehnte Schiff zuführen solle, nach welchem Gestade sie dann auf diefem Fahrzeuge steuern würde, welcher Art dieses Schiff überhaupt sein solle, ob ein schwaches Boot oder ein großer Ozeandampfer, und mit welcher Fracht er fahre, mit tausend Ängsten oder mit Glückseligkeiten beladen bis hinauf in die Wimpel. Aber jeden Morgen, wenn sie erwachte, rechnete sie bestimmt darauf, heute müsse es sich ereignen. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, fuhr sie empor und war dann betroffen, daß es immer noch nicht kam, das große Erlebnis. Wenn die Sonne sank, war sie jedesmal tieftraurig, aber sie hoffte von neuem auf den nächsten Tag.
Der Frühling zog wieder in das Land. Als die Tage wärmer wurden und die Birnbäume zu blühen begannen, litt Emma an Beklemmungen. Dann ward es Sommer. Bereits Anfang Juli zählte sie sich an den Fingern ab, wieviel Wochen es noch bis zum Oktober seien. Vielleicht gäbe der Marquis von Andervilliers wieder einen Ball. Aber der ganze September verstrich, ohne daß ein Brief oder ein Besuch aus Vaubyessard kam. Nach dieser Enttäuschung war ihr Herz wieder leer, und das ewige Einerlei ihres Lebens hub von neuem an.
Also sollten sich denn fortan ihre Tage aneinanderreihen wie die Perlen an einer Schnur, jeder immer wieder gleich dem andern, sollten kommen und gehen und nie etwas Neues bringen! So flach auch das Leben andrer Leute war, sie hatten doch immerhin die Möglichkeit eines außergewöhnlichen Geschehnisses. Ein Abenteuer zieht häufig die unglaublichsten Umwälzungen nach sich und verändert rasch die ganze Szene. Aber in ihrem Dasein blieb alles beim alten. Das war ihr Schicksal! Die Zukunft lag vor ihr wie ein langer stockfinsterer Gang, und die Tür ganz am Ende war fest verriegelt.
Sie vernachlässigte die Musik. Wozu Klavier spielen? Wer hörte ihr denn zu? Es war ihr doch niemals vergönnt, in einem Gesellschaftskleid mit kurzen Ärmeln auf einem Konzertflügel vor einer großen Zuhörerschaft vorzutragen, ihre flinken Finger über die Elfenbeintasten hinstürmen zu lassen und das Murmeln der Verzückung um sich zu hören wie das Rauschen des Zephirs. Wozu also das mühevolle Einstudieren? Ebenso packte sie ihr Zeichengerät und den Stickrahmen in den Schrank. Wozu das alles? Wem zuliebe? Auch das Nähen ward ihr widerlich, und selbst das Lesen ließ sie. »Es ist immer wieder dasselbe!« sagte sie sich.
Und so träumte sie vor sich hin, starrte in die Glut des Kamins oder sah zu, wie draußen der Regen herniederfiel.
Am traurigsten waren ihr die Sonntagsnachmittage. Wenn es zur Vesper läutete, hörte sie, vor sich hinbrütend, den dumpfen Glockenschlägen zu. Eine Katze schlich über die Dächer, gemächlich und langsam, und wo ein bißchen Sonne war, machte sie einen Buckel. Auf der Landstraße blies der Wind Staubwirbel auf. In der Ferne heulte ein Hund. Und zu allem dem, in einem fort, in gleichen Zeiträumen, der monotone Glockenklang, der über den Feldern verhallte.
Inzwischen kamen die Leute aus der Kirche. Die Frauen in Lackschuhen, die Bauern in ihren Sonntagsblusen, die hin und her laufenden Kinder in bloßen Köpfen. Alles ging heimwärts. Nur fünf bis sechs Männer, immer dieselben, blieben vor dem Hoftor des Gafthofes beim Stöpselspiel, bis es dunkel wurde.
Es kam ein kalter Winter. Jeden Morgen waren die Fensterscheiben mit Eisblumen bedeckt, und das Tageslicht, das wie durch mattgeschliffenes Glas hereindrang, blieb mitunter den ganzen Tag über trüb. Von nachmittags vier Uhr an mußten die Lampen brennen.
An schönen Tagen ging Emma in den Garten hinunter. Der Rauhfrost hatte über die Gräser ein silbernes Netz gewoben, dessen glitzernde Maschen von Halm zu Halm gesponnen waren. Kein Vogel sang. Die Natur schien zu schlafen. Das Spalier war mit Stroh umwickelt, und die Weinstöcke hingen an der Mauer wie vereiste Schlangen. Der lesende Mönch unter den Fichten an der Hecke hatte den rechten Fuß verloren. Im Frost war die Glasur abgesprungen, und graue Flecke entstellten ihm nun das Gesicht.
Nach einer Weile stieg sie wieder hinauf in ihr Zimmer, schloss die Tür ab und schürte das Feuer im Kamine. In der Wärme des Zimmers ward sie matt, und die Langeweile lastete schwerer auf ihr. Gern wäre sie hinuntergelaufen, um mit dem Dienstmädchen zu plaudern, aber dazu war sie zu stolz.
Alle Morgen um die nämliche Stunde öffnete drüben der Schulmeister, sein schwarzseidnes Käppchen auf dem Kopfe, die Fensterläden seiner Behausung. Dann marschierte der Landgendarm mit seinem Säbel vorüber. Morgens und abends wurden die Postpferde, immer drei auf einmal, zur Tränke nach dem Dorfteiche vorbeigeführt. Von Zeit zu Zeit schellte die Türklingel irgendeines Ladens; und wenn der Wind ging, hörte man die Messingbecken, die als Aushängeschilder vor dem Barbiergeschäfte hingen, an ihre Stange klirren. Das Schaufenster СКАЧАТЬ