Wegen der Schulkinder hatte es übrigens zwischen den Dörfern eine kleine kulturpolitische Auseinandersetzung gegeben. Nach der Lehrordnung des Miazial Engerutiunk Hajoz, des allgemeinen armenischen Schulvereines, der die maßgebende Unterrichtsbehörde der Nation bildete, sollte das Schuljahr mit den ersten heißen Sommertagen zu Ende gehen, also bereits um die Mitte des Maimonats. Ter Haigasun aber, als oberster Schulverwalter, hatte plötzlich angeordnet, daß nach einer kurzen Ferienpause von acht Tagen der Unterricht neu aufzunehmen sei. Der Entschluß des Priesters entstammte den gleichen Ursachen wie der betäubte Arbeitseifer der ganzen Bevölkerung. Sintflutzeiten! Der nahenden Auflösung und Vernichtung alles Geordneten sollte doppelte Ordnung entgegengesetzt werden, der völligen Hilflosigkeit; die unabwendbar zu erwarten stand, die höchste Regelmäßigkeit und Disziplin. Und überdies war ja gerade in bedrängten Tagen das ungezügelte Geschrei und ahnungslose Getolle ferienfeiernder Kinderrudel eine unerträgliche Landplage. Klärlich wäre also alles mit Ter Haigasun einverstanden gewesen, wenn nicht von Seiten der Lehrerschaft eine erbitterte Gegenströmung eingesetzt hätte. Die Lehrer, allen voran Hrand Oskanian, wollten nicht um ihre Freizeit kommen, die ihnen vertraglich zugesichert war. Sie steckten sich hinter die Muchtars, sie warnten die Eltern, das Gehirn der armen Kleinen werde durch Überanstrengung in der Gluthitze ernsthaft Schaden nehmen; Oskanian, der Schweiger, aber entfesselte einen Werbefeldzug des Hasses gegen Ter Haigasun. Es nützte ihm nichts. Der Priester blieb stark. Er versammelte die sieben Muchtars der Ortschaften um sich und überzeugte sie in einer kurzen Rede. Das neue Schuljahr begann somit, des Sommers ungeachtet, unmittelbar nach dem alten. Die Lehrer versuchten als letztes Mittel Gabriel Bagradian in den Kampf hineinzuziehen. Schatakhian und Oskanian erschienen unter ernsten Förmlichkeiten in der Villa. Gabriel aber erklärte sich rundheraus und rückhaltlos für Fortsetzung des Unterrichts. Er begrüßte sie nicht nur im allgemeinen, sondern auch im persönlichen Interesse, denn er habe die Absicht gefaßt, seinen Sohn Stephan zu Herrn Schatakhian in die Schule zu schicken, damit er endlich mit anderen Knaben seines Alters und seiner Rasse zusammenkomme. Lehrer Schatakhian verbeugte sich und erwiderte in seinem schönsten Französisch mit einer kleinen Ansprache, in der er die Forderungen der modernen Hygiene und Freiheitsfreude gegen die veraltete Strenge der Wissenschaft ausspielte. Nachdem er geendet hatte, traf ihn Bagradians ziemlich erstaunte Frage:
»Warum reden Sie eigentlich französisch mit mir?«
Hapeth Schatakhian verteidigte sich gekränkt:
»Es geschah nur Ihretwegen, Effendi.«
Hrand Oskanian aber stieß ihn wütend in den Rücken, als wollte er damit sagen: Siehst du, deine Eitelkeit hat alles verpatzt. Es blieb den Lehrern somit nur übrig, sich mit ihrer Niederlage vertraut zu machen. Der Schweiger aber lud seinen Haß in ein langes Schmähgedicht gegen Ter Haigasun ab. Bei einer der nächtlichen Zusammenkünfte unter Krikors Führung ließ er das gereimte Pamphlet durch Asajan, den zwirnsdünnen Sänger, zum Vortrag bringen. Lehrer Asajans Stimme bebte vor zorniger Ergriffenheit. Da er im Nebenberuf Chormeister der Kirche war, hatte er unter Ter Haigasuns unzugänglichem Regiment noch mehr zu leiden als andere. Das kämpferische Poem schloß mit folgenden drohenden Versen:
»Verhängt deine Kutte die Sonne auch
Als finstere Wolke, die Sonne bricht durch.«
Da die Sonne hier wohl allegorisch für Geisteslicht stand, so war nicht recht einzusehen, warum Ter Haigasuns Kutte dieses durch Vermehrung des Schulunterrichts verhängte. Krikor schüttelte über dergleichen ehrgeizige Versuche seines Jüngers den Kopf. Die Runde saß im Mondlicht auf einer Halde oberhalb der Weinberge von Kheder Beg. Der Apotheker ließ sich das Gedicht reichen. Von dem geschmähten Helden der Satire sah er ganz ab. Er sah immer vom Gegenstand ab. Mit dunklem Gleichmut verkündete er:
»Das ist ein Durcheinander, Hrand Oskanian. Dichter, die hat es immer nur früher gegeben ...«
Nicht allein Dichter hatte es immer nur früher gegeben, auch Taten, Kriege, Staatsmänner, Helden. Die ganze Welt war erst als Geschichte überhaupt bemerkbar. Damit er den Jünger aber nicht ganz entmutige, winkte ihm Krikor:
»Gib es nicht auf! Aber du mußt noch lernen, Lehrer!«
Am festgesetzten Tage erschien Gabriel Bagradian mit Stephan und seiner kleinen Hausgenossin Sato, deren wunde Füße bereits verheilt waren, im Schulhaus von Yoghonoluk. Vorher hatte es eine kurze Meinungsverschiedenheit mit Juliette gegeben. Sie fürchtete für ihr Kind, so sagte sie, das Zusammenhocken mit dieser ungewaschenen Jugend und noch dazu in einem orientalischen Stall. Man habe Stephan doch nicht einmal in Paris in die Volksschule geschickt, wo doch wahrhaftig die Gefahr von ansteckenden Krankheiten und Kopfläusen weniger zu fürchten war. Gabriel ging von seinem Standpunkt nicht ab. Wenn man die Dinge recht bedenke, so seien derartige Gefahren, die nur allzubald von wirklicheren Gefahren übertroffen werden könnten, nicht ernst zu nehmen. Er, als Vater, halte es für weit wichtiger, daß Stephan nun endlich das Seine lebendig kennenlerne, von Grund auf. Juliette hätte in anderen Zeiten und in einer anderen Lebenslage hundert Antworten bereit gehabt. Jetzt aber gab sie den Kampf sofort auf und schwieg. Es war ein schweigendes Nachgeben, das sie selbst am allerwenigsten verstehen konnte. Seit jenem Nachtgespräch, in dem sich Gabriel so verzweifelt gezeigt hatte, war etwas ganz Rätselhaftes geschehen. Die Traulichkeit des Lebens – diese in einer vierzehnjährigen Ehe gesammelte gute Ernte – verflüchtigte sich immer mehr. Wenn Juliette jetzt nachts erwachte, war es ihr manchmal, als hätten sie und der Schläfer neben ihr keine gemeinsame Geschichte. Ihre gemeinsame Geschichte lag dort drüben in Paris und den lichtberauschten Städten Europas, ganz abgetrennt und nicht mehr zu ihnen gehörig. Was war nur vorgegangen? Hatte sich Gabriel verändert oder sie selbst? Noch immer betrachtete sie die kommenden Möglichkeiten ohne Ernst. Es schien ihr fast lächerlich, anzunehmen, daß die Sintflut vor ihr, der Französin, nicht ehrerbietig haltmachen werde. Es galt nichts anderes, als noch ein paar Wochen zu überstehen. Und dann zurück! Alles, was innerhalb dieser Wochen geschah oder nicht geschah, war gleichgültiges Spiel. So schwieg sie denn zu Gabriels Beschluß über Stephans Schulbesuch. Als sie sich aber in der innersten Seele jener lauen Regung – »Ah, was geht es mich an?« – jäh bewußt wurde, da erschrak sie und empfand ein unbekanntes Wehgefühl nicht nur um sich selbst, sondern mehr noch um Stephan.
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