Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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СКАЧАТЬ dröhnende Signale des göttlichen Heils. Selbst die Härtesten und Verschlossensten umarmten einander und weinten. »Vielleicht will Christus unsre Rettung doch!« Der morgendliche Lichtgruß hatte noch niemals so von innen erleuchtet geklungen. – Was die Bagradians anlangt, schien nun, doppelt bekräftigt, ihr Königsrang für immer festzustehen. Zu Gabriel kamen einige Männer und baten ihn um die Erlaubnis, seinem Sohne Stephan den Heldentitel »Elleon« verleihen zu dürfen. Gabriel Bagradian lehnte nicht ohne leichte Heftigkeit ab. Sein Sohn sei noch ein Kind, das von Gefahr keine Vorstellung habe. Er wünsche nicht, Stephan eitel zu machen und ihn dadurch zu neuen Wahnsinnstaten anzueifern, die einmal ein entsetzliches Ende nehmen könnten. Durch die Strenge seines Vaters kam Stephan daher um die öffentliche Anerkennung. Er mußte sich mit der kleinen Münze des Lobes begnügen, die ihm in den nächsten Tagen überall zuteil wurde. In späterer Zeit schrieben die armenischen Chronisten, die über die Schlachten auf dem Damlajik berichteten, nur über »die Heldentat eines jugendlichen Schützen«, ohne den Namen zu nennen. Doch was hätte dem Bagradian-Sohn selbst der namentlichste Nachruhm genützt?

      Gabriel Bagradian war längst ein andrer, und nicht minder Stephan Bagradian. Ungestraft treiben weichgeborene Menschen das blutige Handwerk nicht, und wären sie auch zehntausendmal im Recht. Auf des Knaben feine Stirn hatte irgendein wüster Gott des Musa Dagh sein dunkles Insiegel gepreßt.

      In der großen Nacht dieses vierzehnten August hatte sich noch etwas andres, wenn auch weit weniger Denkwürdiges zugetragen. Sato war noch im Laufe des Abends auf dämmernden Schleichwegen zu ihren Freunden im Tal gestoßen. Sie sollten den Hergang der Schlacht erfahren, sie sollten hören, daß sechzehn Tote auf der Erde unter ihren Decken lagen und daß die Schmerzensschreie der Verwundeten sich stets nur steigerten, wenn der dumme Hekim Altouni die Wunden mit braunem Wasser bestrich. Die lebendige Zeitung der Bergbewohner und des Gräbervolkes konnte heute in groß aufgetanen Neuigkeiten schwelgen und sich ihre Lebensberechtigung für viele Tage voraus verdienen. Wenn Sato die Bedürfnisse ihrer Kunden bediente und sich Liebkind fühlte, schienen sich ihre Pupillen in auf- und abschwellende Lichtschlitze zu verwandeln, und ihre kehligen Wortbrocken verkündeten erregt und selbstbeglückt die Sensationen. Die Friedhofsleute hörten es gerne, die alte Manuschak, die alte Wartuk und Nunik, die Älteste von allen, wenn man ihr's glaubte. Sie nickten verständnisinnig. Ein großes Selbstbewußtsein kam über sie. Nicht waren sie mehr überflüssig und verworfen, nein, sie hatten ein Amt, unangefochten und seit Menschengedenken von ihnen ausgeübt. Sechzehn Tote lagen oben auf dem Damlajik. Die Toten brauchten sie. Sobald sie aber ihres Amtes walteten, hatten ihre Erzfeinde unterm Volk, Bedros Altouni und die anderen Aufklärer, ihre Macht wider sie verloren und durften keine der Klagefrauen von der Stelle weisen.

      Und Nunik und Wartuk und Manuschak und eine Anzahl andrer Bettlerinnen noch begaben sich mit dem bedachtsam würdigen Schritt von beamteten Wesen zu ihren Wohnhöhlen, die im Umkreis des Friedhofs lagen. Sie zerrten ihre vollgestopften, schmutzstarrenden Säcke hervor, auf denen sie sonst die verlausten Häupter zu betten pflegten. Was im Abgrund dieser Säcke in dichter und dauerhafter Verwesung faulte, das zu beschreiben, fehlen die Begriffe. Es war erlesenes Zeug, im wahrsten Sinne des Wortes vom Boden erlesenes Zeug, seit einem halben Jahrhundert. Die Sammelwut der alten und armen Weiber in aller Welt, das Aufbewahren vermotteten Trödels, das Zusammenscharren schimmligen Abfalls, der eifersüchtig gehütete Bettelschatz von Lumpen und Moder, hier war er zu einer wahren Orgie des Stinkend-Zwecklosen ausgeartet. Und doch, siehe da, diese Altweibersäcke schienen neben Stoffresten, Flicken, leeren Schachteln, steinharten Brot- und Käserinden auch Handwerkszeug von Nunik, Wartuk, Manuschak zu enthalten. Jede von ihnen zog das gleiche mit dem ersten Griff aus ihrem unerschöpflichen Sack: einen langen, grauen Schleier und einen Tiegel voll fetter Salbe. Sie hockten sich hin und begannen ihre Gesichter anzuschmieren wie Schauspieler. Es war eine dunkelviolette Schminke, die ihre ausgefahrenen Runzeln füllte und die beinahe unglaubwürdigen Altersgesichter in zeitlos erhabene Larven verwandelte. Insbesondere Nunik mit ihrer Lupusnase und dem starken Gebiß, das aus der dunklen lippenlosen Maske hervorfletschte, machte ihrem romantischen Ruf als ahasverische Heilkünstlerin volle Ehre. Sie brauchten lange zu ihrem Schminkwerk. Plötzlich aber unterbrachen sie ihre Zurüstungen und bliesen hastig den Kerzenstumpf und den Docht im ranzigen Ölnapf aus, den sie vor sich stehen hatten. Hufschlag und Stimmen zogen vorüber. Dies war der Augenblick, in dem der Bimbaschi mit seinem Stab gegen Suedja ritt. Als der Lärm in Habibli-Holzdorf verschwunden war, erhoben sich die Weiber, hüllten ihre zausigen Grauköpfe in die Schleier, nahmen jedes einen langen Stock in die Hand und machten sich in ihren zerrissenen Klapperpantoffeln auf den Weg. Sonderbar weit griffen ihre dürren braunen Greisenbeine aus. Sato folgte ihnen, durch den großartigen Anblick eingeschüchtert. Wie sie schweigend an ihren Stöcken im halben Mond dahinschritten, fehlte den Klageweibern nicht viel zu Chorgestalten der antiken Tragödie.

      Wie unverwüstlich war die Lebenskraft dieser armenischen Hexen, wie stark ihr Herz! Nicht einer ging der Atem schneller, als sie nach dem steilen Aufstieg durch die Steineichenschlucht auf dem Begräbnisplatz des Lagers ankamen. Die violetten Klageweiber waren hinreichend bei Kräften, um sofort an die Arbeit zu gehen. Nunik, Wartuk, Manuschak und die andern hockten sich zu den Toten. Ihre schmutzigen Klauen enthüllten die schon erstarrten Gesichter. Und dann hub an ihr Gesang, älter vielleicht als die ältesten Lieder der Menschheit. Der Text bestand nur aus dem Namen des jeweiligen Toten. Er wurde ohne Unterbrechung wiederholt, bis der letzte Stern sich im ergrünenden Himmel löste. So arm der Text war, so reich veränderte sich die Melodie. Manchmal war's nur ein langes gleichlautendes Stöhnen, manchmal eine Kette heulender Koloraturen, manchmal ein ödes, schmerzverschlafenes Nicken derselben zwei Töne, endlos, manchmal ein schrilles Aufbegehren, und dies alles nicht etwa frei und der willkürlichen Eingebung folgend, sondern gesetzmäßig und überliefert von jeher. Nicht jede der Sängerinnen besaß die altbewährte Kunst und Stimme Nuniks. Es gab unter ihnen auch mäßige und daher eigennützige Künstlerinnen, deren Gedanken sich während der Arbeit ausschließlich mit dem Geldbeutel der Hinterbliebenen befaßten. Was nützten denn dem reichsten Manne hier oben seine Pfunde und Piaster? Beschenkte er aber das Bettelvolk in verschwenderischer Weise, so vollbrachte er nicht nur ein gottgefälliges, sondern auch ein nützliches Werk. Die Klageweiber, die Blinden und die anderen Ausgeschlossenen waren in der Lage, die klingenden Piaster auch in den mohammedanischen Dörfern aufs beste umzusetzen, ohne daß ihnen ein Leid geschah. Auf diese Weise ging das Armeniergeld nicht zugrunde, sondern kam armen armenischen Seelen zugute, womit sich der Wohltäter billigen Kaufes ein himmlisches Verdienst erwarb. Zwischen den einzelnen Gesängen wurde Nunik von ihren Kolleginnen aufgefordert, mit all ihrer Beredsamkeit diesen logischen Standpunkt zu vertreten und den altgewohnten Preis für die Totenklage wesentlich zu heben. Im Morgengrauen erschienen die Angehörigen und brachten die langen feingewebten Leichenhemden. Dies war kostbarer Familienbesitz, der bei keiner Ortsveränderung zurückbleiben durfte. Die Hemden, in denen der Mensch dereinst ja aufersteht, Festkleider sondergleichen also, machten die Familienmitglieder einander an den feierlichsten Tagen des Lebens zum Geschenk. Der Auftrag, ein solches Hemd zu nähen, galt als eine ganz besondere Ehre, die nur den würdigsten Frauen der Verwandtschaft zukam.

      Das Geheul der Klageweiber war nun zu einem leisen und verinnerlichten Säuseln zusammengesunken. Es begleitete die Zeremonie der Waschung und Einkleidung wie ein trostloser Trost. Zuletzt wurden die langen Hemden unter den Füßen mit einem doppelten Knoten zugeknüpft. Die Gebeine sollten dadurch vor Zerstreuung geschützt werden, auf daß der letzte Sturm, der die Knochen der zu richtenden Menschheit zusammenfügt, keine Ungelegenheit habe, die richtigen ineinanderzupassen. Gegen Mittag waren die Gräber ausgehoben und alles zur Bestattung fertig. Auf sechzehn aus starken Ästen zusammengebundenen Bahren wurden die Gefallenen dreimal um den Altar getragen, während Ter Haigasun die Totengesänge anstimmte. Nachher sprach er auf dem Begräbnisplatz einige Worte zu dem Volke:

      »Diese lieben Brüder hat der blutige Tod uns entrissen. Und doch müssen wir Gott, dem Vater, dem Sohn, dem Heiligen Geist inbrünstig für die unverdiente Gnade danken, daß sie im Kampfe in der höchsten Freiheit sterben durften und unter den Ihrigen hier in der Erde ruhen werden. Ja, noch besitzen wir die Gnade eines freien und eigenen Todes. Und darum müssen wir, um die Gnade, in der wir leben, richtig zu erkennen, immer und immer wieder an die Hunderttausende СКАЧАТЬ