Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 108

СКАЧАТЬ den Stellungen noch auch in der Stadtmulde.

      Man hatte die Toten heimgebracht. Nun lagen sie, unter ihren Decken verborgen, in einer Reihe auf dem ebenen Weideplatz, den Ter Haigasun wegen seiner besonders dicken Erdschicht zum Kirchhof bestimmt hatte. Seit dem Tage des Aufbruchs waren bisher nur drei alte Leute gestorben, deren frische Gräber rohe Kalkblöcke mit schwarz daraufgemalten Kreuzen kenntlich machten. Jetzt wurden auf einmal sechzehn neue Grabstellen notwendig, denn zu den Opfern des Haubitzenfeuers kamen acht Männer, die im Nahkampf gefallen, und fünf andere, die im Laufe der Stunden ihren Wunden erlegen waren. Zur Seite jedes Toten hockte seine Verwandtschaft. Doch kein lautes Wehgeschrei, sondern nur wimmerndes Klagen ertönte.

      Rings um den Lazarettschuppen lagen die Verwundeten mit ihren eingeschrumpften Gesichtern und versunkenen Frageaugen. Der Innenraum konnte nur einen kleinen Teil von ihnen fassen. Der alte Arzt hatte eine unabsehbare Arbeit zu leisten, der er sich weder mit seinen Kenntnissen noch mit seinen Kräften gewachsen fühlte. Ihn unterstützten außer Mairik Antaram noch Iskuhi, Gonzague und Juliette. Besonders Juliette arbeitete an diesem Tage mit einer geradezu wilden Hingabe, als wollte sie in dem Dienst an den Verwundeten ihren Mangel an Liebe für dieses Volk gutmachen. Sie hatte die wohlbestellte Hausapotheke herausgeschleppt, die vor der Abreise in den Orient von dem Pariser Hausarzt der Bagradians eigens zusammengestellt worden war. Ihre Lippen waren farblos. Manchmal schwankte sie, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Dann suchte ihr Blick Gonzague. Sie sah ihn an, nicht wie einen Geliebten, sondern wie einen erbarmungslosen Mahner, der sie zwang, ihre Kräfte weit über ihr Maß hinaus anzuspannen. Auch Apotheker Krikor war pflichtgemäß mit seinen Arzneien erschienen. Er besaß in der Hauptsache nur zwei Wundmittel: einige Pakete mit blutstillender Gaze und drei große Flaschen mit Jodtinktur. Letztere bildete einen besonders wertvollen Schatz, da das Jod wenigstens die Eiterung jener Wunden verhindern konnte, deren Heilung oder Nichtheilung Bedros Altouni knurrend der Natur zu überlassen gezwungen war. Der Apotheker gab dieses Allheilmittel nur mit zögernder Hand aus und goß, sobald die Tinktur allzusehr abnahm, Wasser in die Flasche nach.

      Stephan, der mit Haik und seiner Bande die beiden Schlachtfelder, den Friedhof und Lazarettschuppen umstreifte, sah das jammervolle Treiben mit an. Es war der erste Anblick von Toten, von Verstümmelten und schreienden oder stöhnenden Verwundeten in seinem Leben. Die Schreckensbilder machten ihn um Jahre älter, doch nicht ruhiger. Die frühreife Leidenschaftlichkeit in seinem Gesicht bekam einen finsteren, feindseligen Ausdruck. Wenn er jetzt vor sich hin starrte, glich er manchmal seinem Vorbild Haik, nur mit einem Stich ins Maßlose und Überspannte. Nach Einbruch der Nacht meldete er sich, wie es ihm geboten war, beim Vater in der Nordstellung. Die Führer saßen im Kreise um Gabriel Bagradian. Er hielt die Zünder einer Granate und eines Schrapnells in der Hand und erklärte ihnen das Wesen der Tempierung. Bei der Granate stand die Kerbung des Ringes auf dem Buchstaben A, das heißt, sie war als »Aufschlag« tempiert. Die Kerbe des Schrapnellzünders aber zeigte auf die Ziffer drei, was soviel wie dreitausend Meter bedeutete, jene Distanz, die zwischen der Rohrmündung und dem Zielpunkt lag. Der Zünder war etwa einen Kilometer hinter der ersten Linie gefunden worden. Man konnte demnach in der Berechnung nicht allzu stark fehlgehen, wenn man die Geschützstellung etwa zweitausend Meter jenseits der Sattelhöhe annahm. Gabriel Bagradian ließ die Karte des Musa Dagh im Kreise herumgehen. Er hatte den möglichen Punkt schon eingezeichnet. Die Stellung konnte, wenn man folgerichtig dachte, nur in der kahlen Rinne gelegen sein, die sich den Steilrand des Musa Dagh auch in nördlicher Richtung entlang zieht. Nur dieses schmale, aber freie Band bot den Haubitzen ein gutes Schußfeld, während sonst überall hohe Baumgruppen den Geschossen im Wege standen, was eine unmögliche Elevation der Geschützrohre erfordert hätte. Stephan, Haik und die anderen Jungen hatten sich hinter die Männer gehockt und hörten atemlos der Beratung zu. Nurhan Elleon erwog die Möglichkeit eines Angriffes auf die Geschütze. Gabriel Bagradian lehnte entschieden ab. Entweder, so meinte er, geben die Türken ihre Unternehmung auf, dann werden sie die Haubitzen wieder ins Tal schaffen. Oder sie haben einen neuen Plan, dann werden sie in der Nacht einen Stellungswechsel durchführen. In beiden Fällen sei ein Angriffsversuch überflüssig und höchst gefährlich, denn eine starke Geschützbedeckung, vielleicht sogar ein ganzer Zug Infanterie, könne aus der Deckung heraus unter den Angreifern die größte Verheerung anrichten. Man habe ja an den Türken erlebt, was es heißt, offen zu stürmen. Er aber, Bagradian, wolle kein einziges Armenierleben mehr aufs Spiel setzen. Der eigensinnige Nurhan verteidigte seine Anregung. Es entstand ein heftiger Meinungsstreit, der längere Zeit hin und her wogte, bis der Befehlshaber ihn scharf abbrach:

      »Tschausch Nurhan, auch du bist übermüdet und zu nichts Rechtem mehr brauchbar. Schluß! Geh schlafen! Nach einigen Stunden werden wir weitersehen!«

      Die Knaben aber waren nicht müde, sie fühlten sich zu allerlei brauchbar, es knisterte in ihnen von Überwachheit. Stephan holte sich die Erlaubnis, diese Nacht in der Stellung verbringen zu dürfen. Der Vater, der sein Lager schon aufgeschlagen hatte, gab ihm eine seiner Decken. Das Bedürfnis nach Bett und geschlossenem Raum war Gabriel schon verlorengegangen. Nicht einmal im Freien konnte man atmen, so schwül dehnte sich die Nacht. Die erschöpften Männer schliefen ein, wie betäubt. Einer trat noch die Reste des Feuers auseinander, ehe er sich hinlegte. Die Doppelposten bezogen die Wache und behielten die Zugänge des Sattels scharf im Auge. Wie eine lautlose Vogelkette huschten die Jungen auf und verschwanden hinter den Felsbarrikaden. Der starke Augustmond hatte sein zweites Viertel schon aufgefüllt. In dem überscharfen Licht standen die Knaben eng gedrängt zwischen den kreidigen Blöcken und zischelten und zirpten. Anfangs war es ein blanker Unsinn und ein zielloses Durcheinander im aufwühlenden Mondlicht. Doch auf dem Grunde ihrer abenteuersüchtigen Seelen lag derselbe kitzelnde Wille, der Stephan erfüllte. Kindliche Neugier zuvörderst. Die Geschütze sehen! Unter der Haik-Bande befanden sich etliche Leuchten der Spähergruppe. Konnte man nicht einen Kundschaftergang unternehmen, ohne ausdrückliche Befehle durch Hapeth Schatakhian und Samuel Awakian erhalten zu haben? Stephan warf diese lockende Frage auf. Die Geschichte mit Iskuhis Bibel hatte durch ihre Tollheit sein Ansehen beinahe bis zur Höhe Haiks erhoben. Dieser duldete mit der nachsichtigen Ironie des unüberwindlich Stärkeren den Aufstieg des Bagradian-Sohnes. Manchmal leuchtete jetzt sogar durch sein spöttisches Beschützertum der schwache Schein einer freundschaftlichen Neigung auf. Haik winkte den anderen, ihn in völliger Ruhe zu erwarten. Er wollte zuerst schauen, was dort oben los sei. Er, dessen hellsichtige Naturangeschmiegtheit von keinem erreicht wurde, wies jede Begleitung mit einer knappen Geste zurück. Lautlos verschwand er, um schon nach dreißig Minuten wieder unter dem Schwarm aufzutauchen. Man sehe die Geschütze taghell, berichtete er mit funkelnden Augen. Es seien große, dicke, schöngoldene Dinger, die in einem Abstand von sechs Schritten nebeneinander stünden. Er habe nicht mehr als vierzehn schlafende Kanoniere gezählt und keinen Offizier darunter. Nur ein einziger Wachtposten sei aufgestellt.

      Haik hatte richtig gezählt. Das Schicksal dieser Haubitzen war auch der Grund, weshalb der arme Bimbaschi mit den Kinderwangen sich noch glücklich schätzen mußte, anstatt als General-Pascha seine Laufbahn als militärischer Rechnungsbeamter der anatolischen Eisenbahn zu beenden. Vor dem Kriegsgericht schwur er zwar bei Allahs Barmherzigkeit hundert Eide, daß er die im Reglement vorgeschriebene Geschützbedeckung nicht vergessen habe, sondern daß die verbrecherischen Saptiehs und Tschettehs sich ohne Erlaubnis aus dem Staube gemacht hätten. Obgleich diese Wahrheit erweislich war, half sie dem Guten nicht im geringsten. Er hätte die Pflicht gehabt, einen Zug der regulären Soldaten vor die Batteriestellung zu legen. Mit diesem Versehen aber war das Pech des Bimbaschi noch nicht erschöpft. Der Leutnant der Artillerie war nach dem Abzug der Infanteristen in seiner gänzlichen Befehlsverlassenheit und in Ermangelung eines auch nur halbwegs verläßlichen Unteroffiziers selbst zu Tal gestiegen, um sich die Ordre de bataille für den nächsten Tag zu holen. Daraufhin aber waren auch die als Fahrkanoniere gedungenen Eseltreiber in der gesunden Meinung, man brauche sie des Nachts ja nicht, ohne weiteres in die Dörfer verduftet. Angesichts solcher Feldmoral und der grausigen Begebenheit im Süden fiel das Urteil über den Bimbaschi noch unverhältnismäßig milde aus. Sonderbarer- und glücklicherweise griff Dschemal Pascha, »der schwarze bucklige Schwindler«, der sich sonst um jede Kleinigkeit kümmerte, diesmal nicht persönlich ein. Vielleicht waren die Suez-Sorgen des Feldherrn daran schuld, vielleicht auch СКАЧАТЬ