Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 183

СКАЧАТЬ es, daß alle Dinge Dir Barmherzigkeit zeigen?‹

      Da sprach der Mann: ›Das kann ich Dir nicht sagen, wenn Du es nicht selber erkennst.‹ Und wollte seines Weges gehen, um bald ein Feuer anzuzünden und sein Weib und Kind erwärmen zu können.

      Der Hirt aber dachte, er wolle den Mann nicht ganz aus dem Gesicht verlieren, ehe er erführe, was all dies zu bedeuten habe. Er stand auf und ging ihm nach, bis er dorthin kam, wo der Fremde hauste.

      Da sah der Hirt, daß der Mann nicht einmal eine Hütte besaß, um darin zu wohnen, sondern sein Weib und Kind lagen in einer Felsenhöhle, die nur nackte, kalte Steinwände hatte. Und der Hirt dachte, daß das arme unschuldige Kind vielleicht in dieser Höhle erfrieren und sterben würde, und obwohl er ein hartherziger Mann war, rührte ihn dieses Elend, und er sann nach, wie er dem Kinde helfen könnte. Er löste seinen Ranzen von der Schulter und nahm daraus ein weiches, weißes Schaffell, gab es dem fremden Manne und sagte, er solle das Kindlein darauf betten.

      Aber sobald er gezeigt hatte, daß auch er barmherzig sein konnte, wurden ihm die Augen geöffnet, und er sah, was er zuvor nicht wahrgenommen hatte, und hörte, was zuvor seinen Ohren verschlossen war:

      Er sah, daß er inmitten einer dichten Schar kleiner, silberbeschwingter Engel stand, die einen Kreis um ihn bildeten. Und jedes Englein hielt ein Saitenspiel, und alle sangen mit jubelnder Stimme, daß in dieser Nacht der Heiland geboren sei, der die ganze Welt von ihren Sünden erlösen würde.

      Da verstand er, weshalb sogar alle leblosen Dinge in dieser Nacht so froh waren, daß sie niemandem etwas zuleide tun mochten.

      Und nicht nur rings um den Hirten waren Engel, überall gewahrte er sie. Sie saßen in der Felsenhöhle, und sie saßen draußen auf den Bergen, auch unter dem Himmel flogen sie hin und her. Sie kamen in großen Scharen auf den Wegen dahergewandelt, und wenn sie vorbeischritten, blieben sie stehen und warfen einen Blick auf das Kindlein in der Höhle.

      Jubel und Freude, Sang und Spiel waren allüberall, und der Hirt sah es in der dunkeln Nacht, in der er sonst nichts hatte wahrnehmen können. Voll Freude, daß seine Augen geöffnet waren, sank er auf die Knie und lobete Gott.«

      Und als Großmutter so weit gekommen war, seufzte sie und sprach: »Aber was der Hirt sah, das könnten wir auch sehen, denn die Engel fliegen in jeder Weihnachtsnacht unter dem Himmel einher, wenn wir sie nur zu erkennen vermögen.«

      Und dann legte Großmutter ihre Hand auf meinen Scheitel und sprach: »Dessen sollst Du eingedenk sein, denn es ist so wahr, wie ich Dich sehe und Du mich siehst. Nicht auf Kerzen und Lampen kommt es an, noch auf Sonne und Mond, sondern was nottut, ist einzig und allein, daß wir die rechten Augen haben, Gottes Herrlichkeit zu sehen.«

      Des Kaisers Vision

       Inhaltsverzeichnis

      Es war zu jener Zeit, da Augustus Kaiser in Rom Herodes König in Jerusalem war.

      Da geschah es, daß eine sehr bedeutsame und heilige Nacht auf die Erde sich breitete. Es war die schwärzeste Nacht, die man je gesehen hatte, man hätte glauben können, die ganze Erde sei in ein riesiges Kellergewölbe versunken. Unmöglich war es, Wasser von Land zu unterscheiden, und auf den bekanntesten Wegen konnte man sich nicht zurechtfinden. Es konnte auch gar nicht anders sein, denn kein Lichtstrahl drang vom Himmel herab. Alle Sterne waren daheim in ihren Häusern geblieben, und der freundliche Mond hatte sein Antlitz von der Erde abgewandt.

      Und ebenso tief wie die Finsternis war die Stille. Die Flüsse hatten ihren Lauf gehemmt, kein Windhauch regte sich, und sogar das Espenlaub hatte aufgehört zu zittern. Wäre man zum Meere hinabgegangen, so hätte man entdeckt, daß die Wellen nicht mehr den Strand umspülten, und wäre man in die Wüste gegangen, so hätte der Sand nicht unter den Füßen geknirscht. Alles war wie versteinert und regungslos, um diese heilige Nacht nicht zu stören. Das Gras wagte nicht zu wachsen, der Tau konnte nicht fallen, und die Blumen getrauten sich nicht, Düfte auszuhauchen.

      In dieser Nacht jagten die Raubtiere nicht nach Beute, die Schlangen bissen nicht, die Hunde bellten nicht. Und was noch weit herrlicher war, keines der leblosen Dinge hätte die Heiligkeit der Nacht dadurch entweihen mögen, daß es sich zu einer Uebeltat hergab. Kein Dietrich hätte ein Schloß öffnen können, und kein Messer wäre imstande gewesen, Blut zu vergießen.

      In dieser Nacht nun schritt eine kleine Zahl von Menschen aus dem kaiserlichen Palast auf dem Palatin und schlug die Richtung über das Forum nach dem Kapitol ein. Die Ratsherren der Stadt hatten am jüngst verflossenen Tage den Kaiser befragt, ob er Einspruch erheben würde, wenn sie auf Roms geheiligtem Berge einen Tempel für ihn erbauen ließen. Augustus jedoch hatte seine Zustimmung nicht sogleich erteilt. Er wußte nicht, ob es den Göttern wohlgefällig sein würde, daß er einen Tempel neben ihren Altären besäße, und er hatte geantwortet, daß er zuvor seinem Schutzgeist ein nächtliches Opfer darbringen wolle, um den Willen der Götter zu erforschen. Und er war es, der nun, von einigen Getreuen geleitet, sich anschickte, dieses Opfer darzubringen.

      Augustus ließ sich in seiner Sänfte tragen, denn er war alt, und das Ersteigen der hohen Treppen des Kapitols wäre ihm beschwerlich gefallen. Er selbst hielt das Vogelbauer mit den Opfertauben. Weder Priester noch Soldaten oder Ratsherren folgten ihm, nur seine nächsten Freunde. Die Fackelträger schritten vor ihm her, um einen Weg durch das nächtliche Dunkel zu bahnen, und hinter ihm gingen Sklaven, die den dreifüßigen Altar, die Messer, das heilige Feuer und alles andere trugen, was zur Opferung notwendig war.

      Da der Kaiser unterwegs heiter mit seinen Getreuen plauderte, achtete niemand von ihnen auf die grenzenlose Verschwiegenheit und Stille dieser Nacht. Erst als sie die oberste Terrasse des Kapitols erreicht hatten, dessen leerer Platz für den neuen Tempel ausersehen worden war, wurde ihnen offenbar, daß Ungewöhnliches bevorstehe.

      Diese Nacht glich keiner ihrer Schwestern, denn die Kommenden gewahrten oben am Felsenabhang eine höchst seltsame Erscheinung. Anfangs glaubten sie einen uralten, verkrüppelten Olivenbaumstamm zu erkennen, dann meinten sie, es müsse eine steinalte Statue aus dem Jupitertempel auf den Felsen hinausgewandert sein. Schließlich schien ihnen, daß jene Erscheinung nur die alte Sibylle sein könnte.

      Nie hatten sie etwas so Altes, Verwittertes und Gigantisches gesehen. Diese greise Frauengestalt wirkte schreckenerregend. Wäre der Kaiser nicht dabei gewesen, so hätten sie ihr Heil in der Flucht gesucht, um zu Hause in ihre Betten zu kriechen. »Das ist jene,« flüsterten sie untereinander, »die der Jahre so viele zählt, wie es Sandkörner an der Küste ihrer Heimat gibt. Weshalb ist sie just in dieser Nacht aus ihrer Höhle hervorgekommen? Was verkündigt sie dem Kaiser und dem Reich, sie, die ihre Prophezeiungen auf das Laub der Bäume niederschreibt und weiß, daß der Wind ihr Orakelwort jenem zuweht, für den es bestimmt ist?«

      So entsetzt waren sie, daß sie alle auf die Knie gestürzt wären und die Stirn an den Boden gepreßt hätten, hätte die Sibylle sich auch nur im geringsten bewegt. Sie aber saß da, als wäre alles Leben aus ihr entwichen. Sie kauerte am äußersten Rande des Felsens, hatte die Augen mit der Hand beschattet und spähte in die Nacht hinaus. Als hätte sie den Felsen erklommen, um etwas, das sich in weiter Ferne zutrug, schärfer beobachten zu können, saß sie dort. Sie konnte also in solch einer Nacht dennoch etwas erkennen.

      Eben hatten der Kaiser und sein ganzes Gefolge wahrgenommen, welch tiefe Dunkelheit herrschte. Niemand konnte eine Handbreit vor sich etwas sehen. Und welche Stille, welch unergründliches Schweigen! Nicht einmal das dumpfe Murmeln des Tiber war zu vernehmen. Die Luft lastete erstickend auf den Menschen, kalte Schweißtropfen bedeckten ihre Stirn, und steif СКАЧАТЬ