Название: Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9788027223077
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Wenn ich in der Clapham Road sterbe, werde ich nicht viel mehr auf dieser Welt hinterlassen, als ich aus ihr hinwegnehmen werde. Aber ich besitze das Miniaturbild eines Knaben mit fröhlichem Gesicht und lockigem Haar, der am Hals einen offnen Hemdkragen trägt. Meine Mutter hat es für mich anfertigen lassen, aber ich kann nicht glauben, daß es jemals ähnlich war. Dieses wird beim Verkauf nichts einbringen, und ich werde darum bitten, daß es Frank gegeben wird. Ich habe meinem lieben Jungen einen kleinen Brief dazu geschrieben und ihm darin gesagt, daß es mir sehr leid täte, von ihm zu scheiden; aber andererseits wüßte ich auch keinen rechten Grund, warum ich hierbleiben sollte. Ich habe ihm in kurzen Worten den Rat gegeben – den besten, den ich ihm geben konnte –, sich ein warnendes Beispiel daran zu nehmen, welche Folgen es hätte, wenn man niemandes Feind wäre als sein eigener. Ich habe mich auch bemüht, ihn zu trösten wegen dessen, was er, wie ich fürchte, als einen Verlust ansehen wird. Ich habe ihm vorgehalten, daß ich für jeden außer ihm nur ein überflüssiger Mensch war; daß es mir irgendwie mißlungen sei, einen Platz in dieser großen Gesellschaft zu finden, und daß es deshalb besser sei, wenn ich sie verließe.
Dies (sagte der arme Verwandte, indem er sich räusperte und die Stimme ein wenig erhob) ist die allgemeine Ansicht über mich. Nun ist es aber ein bemerkenswerter Umstand – und das ist Zweck und Ziel meiner Geschichte –, daß das alles verkehrt ist. Das ist nicht mein Leben und das sind nicht meine Gewohnheiten. Ich wohne nicht einmal in der Clapham Road. Ich bin verhältnismäßig sehr selten dort. Ich wohne meistens in einem – ich schäme mich fast, das Wort auszusprechen, es klingt so anspruchsvoll – in einem Schloß. Ich will damit nicht sagen, daß es ein alter freiherrlicher Wohnsitz ist, aber es ist doch ein Gebäude, das jedem stets unter der Bezeichnung Schloß geläufig ist. Darin bewahre ich die Einzelheiten meiner Geschichte auf. Sie verhalten sich folgendermaßen:
Es war zur Zeit, als ich noch im Hause meines Onkels Chill wohnte, von dem ich ein beträchtliches Erbe zu erwarten hatte. Ich war ein junger Mensch von nicht mehr als fünfundzwanzig Jahren und hatte gerade John Spatter, der mein Angestellter gewesen war, als Partner aufgenommen. Damals wagte ich es, mich Christiana zu erklären. Ich liebte Christiana, die von ungewöhnlicher Schönheit und in jeder Hinsicht reizend war, seit langem. Zwar mißtraute ich ihrer verwitweten Mutter, da ich fürchtete, daß sie hinterlistig und geldgierig wäre. Jedoch suchte ich um Christianas willen so gut wie möglich von ihr zu denken. Ich hatte niemals jemand anders als Christiana geliebt, und sie war von unserer Kindheit an die ganze Welt, ja viel mehr als die ganze Welt für mich gewesen!
Christiana nahm mit Zustimmung ihrer Mutter meine Bewerbung an, und ich war der glücklichste Mensch auf Erden. Ich führte im Hause meines Onkels Chill ein dürftiges, langweiliges Leben, und meine Dachkammer war so öde und kahl und kalt wie ein oberes Gefängnisgelaß in einer finsteren Festung im Norden. Aber im Besitz von Christianas Liebe brauchte ich nichts weiter auf Erden. Ich würde mit keinem Menschen getauscht haben.
Zum Unglück war mein Onkel Chill ganz und gar von dem Laster der Habsucht beherrscht. Obwohl reich, war er gierig nach jedem Gewinn, knauserte und sparte und führte ein elendes Dasein. Da Christiana ohne Vermögen war, scheute ich mich eine Zeitlang ein wenig, ihm von unserer Verlobung Mitteilung zu machen. Schließlich aber schrieb ich ihm einen Brief und gestand ihm alles wahrheitsgemäß. Diesen legte ich eines Abends vor dem Zubettgehen in seine Hand.
Als ich am nächsten Morgen herunterkam, war mir das Herz schwer. Ich schauerte in der kalten Dezemberluft, die in dem ungeheizten Hause meines Onkels kälter war als auf der Straße. Denn dort schien doch bisweilen die Wintersonne und auf jeden Fall wurde sie von den fröhlichen Gesichtern und Stimmen der Vorübergehenden belebt. So schritt ich auf das lange, niedrige Frühstückszimmer zu, in dem mein Onkel saß. Es war ein großes Zimmer mit einem kleinen Feuer, und auf dem breiten Erkerfenster hatte der nächtliche Regen seine Spuren hinterlassen, als wären es die Tränen obdachloser Menschen. Es ging auf einen wüsten Hof mit einem rissigen Steinpflaster und einem verrosteten Eisengeländer, das zur Hälfte aus dem Boden herausgerissen war. Ein häßlicher Schuppen stand darauf, der einst in den Zeiten des großen Arztes, der das Haus an meinen Onkel verpfändet hatte, als Seziersaal gedient hatte.
Wir standen stets so früh auf, daß wir zu dieser Jahreszeit bei Kerzenlicht frühstückten. Als ich ins Zimmer trat, hatte sich mein Onkel infolge der Kälte so in seinem Lehnstuhl hinter der einen, trübe brennenden Kerze zusammengekauert, daß ich ihn erst gewahr wurde, als ich dicht am Tisch stand.
Als ich ihm die Hand entgegenstreckte, ergriff er seinen Stock (infolge von Gebrechlichkeit ging er stets mit einem Stock im Hause umher), schlug nach mir und sagte:
»Du Narr!«
»Onkel«, erwiderte ich, »ich hätte nicht erwartet, daß Sie so böse sein würden.«
Ich hatte es auch wirklich nicht erwartet, obwohl er ein harter und zorniger alter Mann war.
»Du hast es nicht erwartet?« sagte er. »Wann hast du jemals etwas erwartet? Wann hast du je gerechnet oder an die Zukunft gedacht, du niedriger Hund?«
»Das sind harte Worte, Onkel!«
»Harte Worte? Das sind bloße Federn, wenn man einen Idioten wie dich damit schlagen will«, erwiderte er. »Hier! Betsy Snap! Seht ihn an!«
Betsy Snap, ein häßliches, welkes, gelbgesichtiges altes Weib, war unser einziger Dienstbote. Zu dieser Morgenstunde war sie stets damit beschäftigt, meinem Onkel die Beine zu reiben. Als mein Onkel sie aufforderte, mich anzusehen, legte er seine magere Klaue auf den Scheitel der neben ihm Knienden und wandte ihr Gesicht mir zu. In meiner Angst schoß mir plötzlich der Gedanke durch den Sinn, daß sie beide ein Bild aus dem Seziersaal boten, wie er zur Zeit des Arztes ausgesehen haben mußte.
»Seht das weichliche Muttersöhnchen an!« sagte mein Onkel. »Betrachtet dieses Kindchen! Das ist der Gentleman, der, wie die Leute sagen, niemandes Feind ist als sein eigner. Das ist der Gentleman, der nicht nein sagen kann. Das ist der Gentleman, dem sein Geschäft so riesige Verdienste abwirft, daß er notwendig jüngst einen Partner aufnehmen mußte. Das ist der Gentleman, der eine Frau ohne einen roten Heller heiraten will und der in die Hände von Isebels gerät, die auf meinen Tod spekulieren!«
Jetzt wußte ich, wie groß die Wut meines Onkels war. Denn wenn er nicht fast rasend gewesen wäre, so hätte ihn nichts veranlassen können, dieses alles beendende Wort in den Mund zu nehmen. Sonst durfte es unter keinen Umständen vor ihm ausgesprochen oder angedeutet werden, so widerwärtig war es ihm.
»Auf meinen Tod«, wiederholte er, gleich als trotzte er mir, indem er seinem eigenen Abscheu vor dem Wort Trotz bot. »Auf meinen Tod – Tod – Tod! Aber ich werde die Spekulation zunichte machen. Iß deine letzte Mahlzeit unter diesem Dach, du Jämmerling, und mögest du daran ersticken!«
Ihr könnt euch denken, daß ich nicht viel Appetit auf das Frühstück hatte, zu dem ich in diesen Ausdrücken eingeladen wurde. Jedoch nahm ich meinen gewohnten Platz ein. Ich sah, daß mein Onkel nichts mehr von mir wissen wollte; aber im Besitz von Christianas Herzen konnte ich das mit Gleichmut ertragen.
Er leerte seine Schale Brot und Milch wie gewöhnlich, СКАЧАТЬ