Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 111

СКАЧАТЬ ungerissene Band, das ihn an das Leben fesselte. Er setzte seine väterliche Hoffnung und sein Vertrauen auf das schwache Kind, bewachte jeden seiner Blicke, während sie es in den Armen hielt, und sagte tausendmal: »Sie liebt es! Gott sei Dank! Sie liebt es!«

      Er sah, wie die Hauswirtin sie während der Nacht bewachte, zu ihr zurückkehrte, als ihr brummender Mann schlief und alles still war, sie beruhigte, mit ihr weinte und ihr Nahrung reichte. Er sah den Tag und wieder die Nacht kommen, den Tag, die Nacht die Zeit vergehen. Er sah das Haus des Todes des Toten entledigt, die Kammer ihr und ihrem Kinde überlassen. Er hörte es wimmern und weinen, er sah, wie es ihre Geduld fortwährend auf die Probe stellte, wenn sie vor Erschöpfung schlummerte, ihr wieder das Bewußtsein ihrer Lage zurückrief und sie mit seinen kleinen Händen auf der Folter festhielt. Doch sie blieb sanft und geduldig gegen das Kind. Geduldig! Sie war seine liebende Mutter im innersten Herzen, und sein Leben war mit dem ihrigen so innig verknüpft, als wenn sie es noch nicht geboren hätte.

      Während dieser ganzen Zeit litt sie Mangel, litt bittersten, quälendsten Mangel. Mit dem Kind in den Armen ging sie hierhin und dorthin und suchte Beschäftigung, und während des Kindes mageres Gesicht in ihrem Schoße lag und sie ansah, arbeitete sie für den kläglichsten Lohn, Tag und Nacht für so viele Pfennige, als der Sonnenzeiger Ziffern hatte. Daß sie das Kind gescholten, daß sie es vernachlässigt, daß sie es mit augenblicklichem Hasse angesehen, daß sie es in einem Anfall von Zorn geschlagen hätte! Oh nein! Sein Trost war: »Sie liebte es immer!«

      Sie klagte niemand ihre Not und ging den Tag über weg, um nicht von ihrer einzigen Freundin gefragt zu werden. Denn jede Hilfe, die sie aus ihrer Hand empfing, verursachte nur Streit zwischen der guten Frau und ihrem Mann, und es war ein neues Leid für sie, täglich die Veranlassung zu Streit und Zwietracht zu sein in einem Hause, dem sie so viel verdankte.

      Sie liebte das Kind noch, sie liebte es immer mehr. Doch ihre Liebe nahm eine andere Gestalt an.

      In einer Nacht ging sie in der Stube auf und nieder, um es zu beruhigen, und sang leise, um es einzuschläfern. Da wurde die Tür leise geöffnet, und ein Mann sah herein.

      »Zum letztenmal!« sagte er.

      »William Fern!«

      »Zum letztenmal!«

      Er horchte, wie einer, der verfolgt wird, und sprach im Flüsterton:

      »Meg, meine Zeit ist beinahe abgelaufen. Ich konnte nicht enden, ohne dir ein Abschiedswort zu sagen, ohne dir zu danken.«

      »Was habt Ihr getan?« fragte sie und sah ihn entsetzt an.

      Er blickte auf sie nieder, antwortete aber nicht.

      Nach kurzem Schweigen machte er eine Bewegung mit der Hand, als wenn er ihre Frage beiseite schieben, als wenn er sie verlöschen wollte, und sagte: »Es ist schon lange her, Meg, aber jene Nacht ist mir noch so frisch in der Erinnerung, wie jemals. Da dachten wir nicht‹, fügte er um sich blickend hinzu: »daß wir uns so wiedersehen würden. Dein Kind, Meg? Laß es mich auf den Arm nehmen. Laß mich dein Kind halten.«

      Er stellte seinen Hut auf den Boden und nahm es und zitterte, als er es nahm, von Kopf bis zu den Füßen.

      »Ist es ein Mädchen?«

      »Ja.«

      Er hielt seine Hand vor ihr kleines Gesicht.

      »Siehe, wie schwach ich geworden bin, Meg, da es mir an Mut fehlt, es anzusehen. Laß es mir einen Augenblick. Ich tue ihm nichts. Es ist schon lange her – doch wie heißt sie?«

      »Margarete«, antwortete sie schnell.

      »Das freut mich«, sagte er, »das freut mich!«

      Er schien freier zu atmen und nachdem er einen Augenblick innegehalten, nahm er seine Hand weg und sah dem Kinde ins Gesicht. Doch sogleich deckte er es wieder zu.

      »Es ist Lilly!«

      »Lilly!«

      »Ich hielt dasselbe Gesichtchen in meinen Armen, als Lillys Mutter starb und sie mir zurückließ!«

      »Als Lillys Mutter starb und sie zurückließ!« wiederholte Meg mit aufgeregter Stimme.

      »Wie schrill Ihr sprecht. Warum hebt Ihr Eure Augen so auf mich, Meg?«

      Sie sank auf einen Stuhl nieder, drückte das Kind an ihre Brust und weinte. Bisweilen ließ sie es aus ihren Armen los, um ängstlich das Gesichtchen zu beobachten. Dann preßte sie es wieder an ihre Brust. Wenn sie es anblickte, dann mischte sich etwas Wildes, Schreckliches in ihre Liebe. Dann weinte ihr alter Vater.

      »Folg’ ihr!« klang es durch das Haus, »lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

      »Meg«, sagte Fern, beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirn. »Ich danke Euch zum letztenmal. Gute Nacht! Lebt wohl! Legt Eure Hand in die meine und sagt mir, daß Ihr mich von dieser Stunde an vergessen und denken wollt, es habe mit mir ein Ende genommen.«

      »Was habt Ihr getan?« fragte sie wiederum.

      »Es wird heute nacht ein Feuer sein«, sagte er, sich von ihr entfernend, »es wird diesen Winter viele Feuer geben, um die dunklen Nächte zu erhellen – im Osten, Westen, Norden und Süden. Wenn Ihr den Himmel in der Ferne gerötet seht, dann flammen sie auf. Wenn Ihr den Himmel in der Ferne gerötet seht, dann denkt nicht mehr an mich. Oder wenn Ihr es tut, dann denkt daran, was für eine Hölle in meiner Seele brennt, und denkt, Ihr seht ihre Flammen in den Wolken sich spiegeln. Gute Nacht! Lebt wohl!«

      Sie rief ihm nach. Doch er war fort. Sie saß erstarrt da, bis ihr Kind sie zu dem Gefühl des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit erweckte. Sie schritt die liebe, lange Nacht mit demselben im Zimmer auf und nieder, um es zu beruhigen, und sagte mitunter: »Wie Lilly, als ihre Mutter starb und sie zurückließ!«

      Warum war ihr Schritt so schnell, ihr Auge so wild, ihre Liebe so heiß und schrecklich, wenn sie diese Worte wiederholte?

      »Doch es ist Liebe«, sagte Trotty, »es ist Liebe. Sie wird nie aufhören, es zu lieben. Meine arme Meg!«

      Sie kleidete am nächsten Morgen das Kind mit ungewöhnlicher Sorgfalt an – vergebliche Mühe, auf solche Lumpen Sorgfalt zu verwenden! – und wollte noch einmal versuchen, nach Mitteln zum bloßen Leben sich zu bemühen. Es war der letzte Tag des alten Jahres. Sie ging bis zum Abend umher, ohne einen Bissen gegessen zu haben. Alles war vergeblich!

      Sie mischte sich unter einen elenden Haufen, der im Schnee stand, bis ein Beamter, der die öffentlichen Almosen verteilen sollte – das gesetzliche Almosen, nicht das, welches einst auf dem Berge gepredigt wurde – so gnädig sein würde, sie hereinzurufen und sie auszufragen, und dem einen zu sagen: »Gehe da und da hin«; dem andern: »Komme nächste Woche wieder«; und aus einem dritten einen Ball zu machen und ihn hierhin und dorthin von Hand zu Hand, von Haus zu Haus zu werfen, bis er müde ward und sich niederlegte, um zu sterben, oder sich Mut faßte und einen Diebstahl beging und auf solche Weise eine höhere Art von Verbrecher wurde, dessen Ansprüche keinen Verzug vertrugen.

      Auch hier war sie vergebens. Sie liebte ihr Kind und wünschte es an ihrer Brust zu hegen. Das hätte ihr genügt.

      Es war Nacht, eine unwirtliche, finstere, schneidend kalte Nacht. Da gelangte sie, indem sie ihr Kind fest an sich drückte, um ihm ein wenig von ihrer eigenen СКАЧАТЬ