Mary gab ihm einen Zinneimer und Seife, und er ging zur Tür hinaus und setzte den Eimer auf eine kleine Bank; dann tauchte er die Seife ins Wasser und legte sie daneben; krempelte sich die Ärmel auf, ließ das Wasser auslaufen, ging in die Küche zurück und begann hinter der Tür sich das Gesicht mit dem Tuch eifrig abzutrocknen.
Aber Mary entriß ihm das Tuch und sagte: „Schämst du dich nicht, Tom? Du sollst nicht immer so schlecht sein. Ein bißchen Wasser schadet dir wahrhaftig nicht.“
Tom war einen Augenblick in Verwirrung. Der Eimer wurde wieder gefüllt, und diesmal blieb er eine Weile darüber gebeugt stehen, Mut sammelnd. Ein tiefer Seufzer — und los! Als er dann wieder in die Küche zurückkam, beide Augen geschlossen, und nach dem Tuch griff, tropften Schmutz und Wasser von seinem Gesicht herunter — ein ehrenvolles Zeichen seines Mutes. Aber als er hinter dem Tuche wieder auftauchte, sah er durchaus noch nicht einwandfrei aus; das reine Gebiet hörte an Mund und Ohren auf. Jenseits dieser Linie breitete sich eine undurchdringlich schwarze Fläche bis in den Nacken aus. Mary nahm ihn jetzt in die Mache und als sie mit ihm fertig war, sah er wie ein tadelloser Gentleman aus, fleckenlos und mit hübschen Sonntagslocken in gleichmäßiger Verteilung. (Er selbst haßte diese Locken von Herzen und versuchte, sie auf den Kopf niederzubürsten; denn er hielt Locken für weibisch, und sie erfüllten sein Leben mit Bitterkeit.) Dann kam Mary mit einem Anzuge, den er während zweier Jahre nur an Sonntagen getragen hatte und der allgemein nur als die „anderen Kleider“ bezeichnet wurde — woraus man auf den Stand seiner Garderobe schließen kann. Das Mädchen schubste ihn noch ein bißchen zurecht, nachdem er sich selbständig angezogen hatte. Sie verlieh ihm einen gewissen (ganz ungewohnten) Schein von Zierlichkeit, zog den Hemdkragen herunter, bürstete ihn ab und krönte ihn mit seinem farbigen Strohhut. So sah er außerordentlich sanftmütig und behaglich aus. Und er fühlte sich auch so. Sein Widerwillen gegen ganze und saubere Kleider war unverwüstlich. Er hoffte, Mary werde wenigstens die Stiefel vergessen, aber diese Hoffnung wurde zunichte. Sie bestrich sie, wie es sich gehört, mit Talg und brachte sie ihm. Jetzt verlor er die Geduld und sagte, er solle immer tun, was er nicht möchte. Aber Mary sagte überredend: „Na, komm, Tom, sei ein braver Bursche!“ So fuhr er brummend in seine Stiefel. Mary war bald fertig, und die drei Kinder gingen zur Sonntagsschule, ein Ort, der Tom gründlich verhaßt war. Aber Sid und Mary gingen sehr gern hin.
Die Zeit der Sonntagsschule war von neun bis halb zehn Uhr; dann kam der Gottesdienst. Zwei der Kinder blieben stets mit Vergnügen zur Predigt da, das dritte blieb auch — ja, aber aus anderen Gründen. Die hochlehnigen, schmucken Kirchenstühle konnten über dreihundert Personen fassen; das Gebäude selbst war klein, vollgestopft — mit einer Art fichtenem Kasten als Turm darauf.
An der Tür blieb Tom ein bißchen zurück und hielt einen sonntäglich gekleideten Kameraden an: „Sag, Bill, hast du ein gelbes Billett?“
„M — ja!“
„Was willst du dafür haben?“
„Was willst du geben?“
„Ein Stück Zuckerstange und einen Angelhaken.“
„Zeig her.“
Tom zeigte seine Tauschobjekte. Sie waren befriedigend, und das Geschäft wurde gemacht. Dann erhandelte Tom einige blaue und rote Zettel gegen ähnliche Kleinigkeiten. Er stellte die anderen Jungen, wie sie ihm in den Weg kamen, und verkaufte, indem er Zettel der verschiedenen Farben dagegen kaufte. Dann ging er in die Kirche, inmitten eines Schwarmes geputzter, lärmender Knaben und Mädchen, schlängelte sich auf seinen Platz und fing mit dem ersten besten Streit an. Der Lehrer, ein würdiger, bejahrter Mann, trat dazwischen. Dann wandte er sich einen Augenblick um, und Tom riß einen Knaben in der vorderen Bank an den Haaren und war vertieft in sein Buch, als der Knabe herumfuhr. Darauf stach er einen anderen mit einer Nadel, dieser schrie auf, und Tom erhielt abermals einen Verweis. Toms ganze Klasse war eine Musterklasse — nach seinem Muster — unruhig, vorlaut und lärmend. Als es ans Aufsagen der Lektion ging, wußte nicht ein einziger seine Verse gründlich, alles stümperte und war unsicher. Indessen — sie kamen durch, und jeder erhielt seine Bestätigung in Form eines blauen Zettels, jeder mit einem Bibelspruch darauf; jeder solcher Zettel galt für zwei aufgesagte Verse. Zehn blaue Zettel waren gleich einem roten und konnten gegen einen solchen umgetauscht werden; zehn rote machten einen gelben aus, und für diesen gab der Superintendent eine sehr einfach gebundene Bibel (heutzutage gewiß vierzig Cents wert).
Wie viele meiner Leser würden Fleiß und Aufmerksamkeit genug haben, um zweitausend Verse auswendig zu lernen, und handelte es sich um eine Doréesche Bibel? Und doch hatte Mary auf diese Weise zwei Bibeln erworben; es war das Werk zweier Jahre; ein Knabe deutscher Abkunft hatte es gar auf vier oder fünf gebracht. Einmal hatte er dreitausend Verse hergesagt, ohne zu stocken. Aber die geistige Anstrengung war zu groß gewesen, und er war von dem Tage an nicht viel besser als ein Idiot — ein böses Mißgeschick für die Schule, denn vor diesem Ereignis hatte der Superintendent bei besonderen Gelegenheiten den Knaben vortreten und „sich blähen“ lassen (wie Tom das nannte). Nur die gesetzteren Schüler gaben sich die Mühe, ihre Zettel aufzubewahren, und ihr langweiliges Werk solange fortzusetzen, bis sie Anspruch auf eine Bibel hatten. So war die Erlangung eines solchen Preises ein seltenes und bemerkenswertes Ereignis; der Sieger war an seinem Ehrentage eine so große, hervorragende Person, daß heiliger Ehrgeiz die Brust eines jeden Schülers erfüllte und oft mehrere Wochen anhielt. Es ist möglich, daß Toms Streben niemals auf einen solchen Preis gerichtet war, zweifellos aber sehnte sich sein ganzes Sein nach dem Ruhm und Aufsehen, die ein solches Ereignis mit sich brachten.
Der Geistliche stand jetzt vor der Versammlung, einen geschlossenen Psalter in der Hand und den vierten Finger zwischen die Blätter geschoben. Er befahl Ruhe. Wenn nämlich ein Sonntagsschullehrer seine gewohnte kleine Rede vom Stapel lassen will, ist ein Psalterbuch in seiner Hand so notwendig, wie die Notenblätter in der Hand eines Sängers, der im Konzert vom Podium aus ein Solo vortragen soll — wer weiß, warum? Denn niemals werden Psalterbuch oder Notenblätter beim Vortrag geöffnet.
Der Superintendent war ein schmächtiger Mann von fünfunddreißig Jahren, mit sandgelbem Ziegenbart und kurzgeschorenem sandgelbem Haar. Er trug einen steifen Stehkragen, dessen oberer Rand seine Ohren streifte und dessen scharfe Ecken bis zu den Mundwinkeln vorsprangen — eine Planke, die ihn zwang, den Kopf stets vorzustrecken und den ganzen Körper zu drehen, wenn er zur Seite blicken wollte. Sein Kinn war in eine riesige Krawatte gezwängt, die so breit und lang war, wie eine Banknote und spitze Enden hatte. Mr. Walter war äußerst ernsthaft von Aussehen und sehr gutmütig und ehrenhaft von Charakter. Und er hielt geistige Dinge und Angelegenheiten so sehr in Ehren und wußte sie so streng von allem Weltlichen zu trennen, daß seine Sonntagsschulstimme ihm selbst unbewußt einen gewissen Klang angenommen hatte, von dem sie an Wochentagen vollkommen frei war.
Er begann also: „Nun, Kinder, sitzt einmal so ruhig und gesittet, als es euch nur immer möglich ist, und paßt einmal ein paar Minuten tüchtig auf, denn darauf kommt es vor allem an! Das sollten alle braven Knaben und Mädchen stets tun! Ich sehe ein kleines Mädchen, das zum Fenster hinausschaut — ich fürchte, sie bildet sich ein, СКАЧАТЬ