Als Becky zögerte, nahm Tom ihr Stillschweigen für Zustimmung, schlang seinen Arm um ihre Schulter, legte seinen Mund an ihr Ohr und flüsterte ihr die alte Zauberformel zu. Und dann sagte er: „Nun, mußt du‘s mir sagen — grad so!“
Sie wehrte sich eine Weile und bat dann: „Aber, du mußt das Gesicht fortwenden, daß du‘s nicht sehen kannst — dann tu ich‘s. Aber du darfst es niemand sagen, willst du, Tom? Na, sag, willst du?“
„Selbstverständlich, Becky! Also jetzt!“
Er drehte den Kopf zur Seite. Sie beugte sich hinüber, bis ihr Atem ihn berührte, und flüsterte dann ganz leise: „Ich — liebe — dich!“
Und dann sprang sie auf und lief um Tische und Bänke herum, Tom hinterher, und flüchtete schließlich in einen Winkel, ihre weiße Schürze vor dem Gesicht. Tom faßte sie um und sprach leise auf sie ein.
„Na, Becky — ‘s ist ja schon gut — alles, bis auf den Kuß! Fürchte dich nur nicht davor, ich tu dir gewiß nichts. Sei gut, Becky!“
Damit zupfte er an der Schürze und an den Händen. Allmählich gab sie nach und ließ die Hände sinken. Ihr Gesichtchen, glühend vor Scham, erschien wieder. Tom küßte sie auf die roten Lippen und sagte: „So, nun ist‘s ganz vorbei, Becky! Und jetzt weißt du wohl, darfst du nie wieder ‘nen anderen gern haben, außer mir, und darfst auch keinen heiraten, außer mir, nie, nie nie! Willst du?“
„Nein, ich will nie ‘nen anderen lieb haben als dich, Tom, und ich will nie ‘nen anderen heiraten als dich, und du darfst auch nie eine andere heiraten als mich, niemals.“
„Na, gewiß! Versteht sich doch! Und, wenn wir jetzt wieder in die Schule gehen, oder wenn wir von der Schule nach Haus kommen, mußt du immer mit mir gehen, wenn‘s die anderen nicht sehen — und du wählst mich und ich dich beim Spazierengehen — so ist‘s unter Verlobten!“
„Nett ist das. Ich hatte davon noch nie gehört.“
„O, es ist so lustig! Als ich und Amy Lawrence —“
Die erstaunten Augen belehrten Tom über seine Dummheit, und er hielt verwirrt inne.
„Ach, Tom, also bin ich nicht die erste, mit der du verlobt warst?“
Das Mädchen begann zu heulen.
Tom bat: „Nicht weinen, Becky. Ich mag sie ja gar nicht mehr leiden.“
„Doch, du magst sie noch, Tom, du weißt ganz gut, daß du sie noch magst!“
Tom versuchte, seinen Arm um ihren Hals zu legen, aber sie stieß ihn fort, drehte das Gesicht nach der Wand und fing wieder an zu heulen. Tom machte mit seinen süßesten Schmeicheleien einen neuen Versuch und wurde abermals abgeschlagen. Da erwachte sein Stolz, er wandte sich ab und ging hinaus. Draußen blieb er ein wenig stehen, schwankend und unentschlossen, schielte nach der Tür und hoffte, sie würde bereuen und ihm nachkommen. Aber sie kam nicht. Schließlich wurde er weich; er fühlte, daß das Unrecht auf seiner Seite wäre. Es war wohl sehr sauer, ihr nochmals entgegenzukommen, aber er machte sich selbst Mut und ging hinein. Sie stand immer noch in ihrem Winkel, das Gesicht zur Wand gekehrt. Toms Herz wollte brechen. Er ging zu ihr, stand einen Augenblick zögernd und wußte nicht, was tun. Dann sagte er ganz schüchtern: „Becky — ich — ich kümmere mich um keine andere als dich.“
Keine Antwort. Schluchzen.
„Becky,“ in bittendem Ton. „Becky, willst du nicht wenigstens was sagen?“
Immer lauteres Schluchzen. Tom zog seinen kostbarsten Schatz hervor, den abgebrochenen Knopf irgend eines alten Hausgerätes, hielt ihn ihr dicht vor die Augen und schmeichelte: „Na, Becky, willst du den haben?“
Sie schlug ihn ihm aus der Hand, daß er bis zur Tür flog. Da marschierte Tom denn aus der Tür, über Berg und Tal, um an dem Tage nicht mehr zur Schule zurückzukehren. Sofort drehte sich Becky um. Sie lief zur Tür. Er war nicht mehr zu sehen. Sie rannte hinaus auf den Spielplatz. Er war nicht dort. Nun begann sie aus Leibeskräften zu schreien: „Tom, komm zurück — Tom!!“
Sie horchte angestrengt, aber keine Antwort kam. Sie war also allein in der Stille und Verlassenheit ringsum. So fing sie wieder an zu schreien, um sich selbst zu ermutigen, bis die Schüler wieder zur Schule zu kommen begannen und sie ihren Kummer hinunterschlucken und ihr gebrochenes Herz einstweilen beruhigen mußte. So nahm sie ihr Kreuz eines ganzen langweiligen Nachmittags auf sich, ohne unter all diesen Fremden eine einzige mitfühlende Seele zu finden, die ihren Schmerz mit ihr geteilt hätte.
Achtes Kapitel.
Tom schlenderte immer weiter durch die Gassen, bis er zu weit von der Schule entfernt war, um noch zum Nachmittagsunterricht gehen zu können, dann setzte er sich in Trab. Ein paarmal passierte er kleine „Flußarme“, da ihm ein weitverbreiteter, jugendlicher Aberglaube sagte, daß er sich dadurch vor Verfolgung sichern könne. Nach einer halben Stunde war er hinter Douglas Mansion auf dem Gipfel von Cardiff Hill verschwunden, das Schulhaus lag weit unten im Nebel, kaum noch sichtbar. Er „nahm“ einen dichten Wald, schlug einen Weg in das Innere ein, der keiner war, und setzte sich auf eine Moosbank unter das weite Blätterdach einer Eiche. Kein Lüftchen regte sich. Die schwere Nachmittagsluft ließ sogar die Vögel verstummen. Die ganze Natur lag in starrer Dumpfheit, nur zuweilen unterbrochen durch entferntes Pochen eines Spechtes, wodurch das Schweigen und das Gefühl des Alleinseins nur um so fühlbarer wurde. Der kleine Bursche versank in melancholische Träume. Seine Empfindungen standen vollkommen in Einklang mit seiner Umgebung. Lange saß er, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, das Kinn in der Hand, und dachte nach. Es wollte ihm scheinen, daß das ganze Leben im besten Fall eitel Kummer und Sorge sei, und er beneidete mehr als je Jimmy Hodges. Es muß sehr friedvoll sein, dachte er, für immer zu liegen und zu schlummern und zu träumen, wenn der Wind in den Blättern flüstert und Gras und Blumen auf dem Grab fächelt — und von nichts mehr gedrückt und belästigt zu werden — nie mehr. Hätte er nur ein gutes Sonntagsschulzeugnis gehabt — wie leicht hätte er für immer dem Leben Valet gesagt. Und dann dieses Mädchen. Was hatte er ihr eigentlich getan? Nichts! Er hatte die beste Absicht von der Welt gehabt und war artig gewesen wie ein Hund — wie ein wohlerzogener Hund. Sie würde ein paar Tage traurig sein — vielleicht! Ach, wenn er doch für einige Zeit wenigstens hätte sterben können.
Aber der leichte Sinn der Jugend läßt sich nicht lange niederdrücken. Tom begann sehr bald wieder in sein altes Lebenselement zurückzutreiben. Wie, wenn er jetzt fortging und auf geheimnisvolle Weise verschwände? Wenn er weit, weit in unbekannte Länder, jenseits des großen Wassers, gelangte und nie wieder zurückkäme. Was würde sie dann wohl fühlen? Der Gedanke, ein Clown zu werden, kam ihm wieder, wurde aber mit Abscheu abgewiesen. Für dumme Witze und Possen und gemalte Kleider war sein Geist, der sich eben noch in den kühnsten Träumen verloren hatte im Reich der Romantik, wenig disponiert. Nein, er wollte Soldat werden und nach langen Jahren als kriegserfahrener, berühmter Mann zurückkehren. Oder noch besser, er wollte zu den Indianern gehen, mit ihnen Büffel jagen, in den wilden Bergen und den verlassenen Prärien den Kriegspfad beschreiten, um СКАЧАТЬ