Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky
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СКАЧАТЬ die Sache nicht abgetan!« sagte sie. »Immerhin … Warten Sie.« Sie ging. Die Prinzessin nickte befriedigt. Die Frau kam wieder.

      »Sie hat einen Schrank ruiniert … sie hat ein Fenster kaputtgemacht; das Fenster war von innen abgeriegelt, sie muß da etwas hinausgeworfen haben … das macht … ich habe auch noch eine Wäscherechnung …« – »Nun ist es genug«, sagte ich. »Sie bekommen nun gar nichts, und dann nehmen wir das Kind mit, auch ohne seine Sachen – oder aber Sie schreiben mir eine Quittung über den Scheck aus, und dann liefern Sie uns alle Sachen aus, die dem Kind gehören,« – Frau Adriani machte eine Bewegung –, »alle Sachen, und dann bekommen Sie Ihr Geld. Nun?«

      Sie ringelte sich; man fühlte, wie es in ihr gärte und wallte … aber da war der Scheck! Da war der Scheck! Psychologie ist manchmal sehr einfach. Nein, so einfach war sie doch nicht. Wieviel Stimmlagen hatte diese Frau! Nun legte sie die letzte Platte auf.

      Sie begann zu weinen. Die Prinzessin starrte sie an, als hätte sie ein exotisches Fabeltier vor sich.

      Frau Adriani weinte. Es klang, wie wenn jemand auf einer kleinen Kindertrompete blies, es war mehr eine Art Quäken, was da herauskam, ganz leise, bei völlig trockenen Augen – so machen die kleinen Gummischweinchen, wenn sie die Luft von sich geben und verrunzelnd zusammenfallen. Großaufnahme: »Ich bin eine Frau, die sich ihr Leben erarbeitet hat«, sang die Kindertrompete. »Ich habe viele Reisen gemacht und mir Bildung erworben. Ich habe einen kranken Mann; ich habe niemanden, der mir hilft. Ich stehe diesem Hause seit acht Jahren vor – ich bin den Kindern wie eine Mutter, wie eine Mutter … das Kind ist mir ans Herz gewachsen … ich habe für dieses Kind … Scheißbande!« brüllte sie plötzlich.

      Es war wie eine Erlösung. Die Vorstellung des Stücks »Das gerührte Mutterherz« war so dumm gewesen, es waren die gangbaren Mittel einer Provinz-Hysterika … daß wir wie von einem Alpdruck befreit waren, als sie mit dem Kraftwort abschloß und in die Realität zurückkehrte, in ihre Wirklichkeit. »So«, sagte ich. »Nun gehn wir und packen ein!« Ihr letzter Widerstand flackerte auf. »Ich packe nicht. Gehn Sie selber nach oben und suchen Sie sich ihre Lumpen zusammen. Liegt wahrscheinlich alles durcheinander. Ich suche nicht.« Sie knallte auf einen Stuhl. Und sprang gleich wieder auf. »Natürlich lasse ich Sie nicht allein hinaufgehn! Senta! Anna!« Es erschienen zwei Mädchen. Sie sagte zu ihnen etwas auf schwedisch, das wir nicht verstanden. Wir gingen hinauf.

      Aus allen Türen sahen Mädchenköpfe, verängstigte, neugierige, aufgeregte Gesichter. Keines sprach; ein Mädchen knickste verlegen, dann andre. Wir standen oben im Schlafzimmer Adas; die vier kleinen Mädchen, die darin waren, drückten sich scheu in einer Ecke zusammen. Wir öffneten den Schrank, und die Prinzessin fragte nach einem Koffer. Ja, das Kind hatte einen mitgebracht, aber der stände auf dem Boden. »Wollen Sie ihn bitte …« Ein Mädchen ging. Die Prinzessin räumte den Schrank aus. »Das? Das auch?« Mit einem Schwung öffnete sich die Tür, Frau Adriani preschte ins Zimmer. »Ich will genau sehn, was sie mitnimmt! Am Ende eignen Sie sich noch fremde Sachen an!« Eine schlechte Verliererin war sie – wer bleibt anständig, wenn er seine Partie verloren hat? »Sie können alles genau sehn, und im übrigen – Holla!« Sie war auf das Kind zugegangen, das sich duckte. Ich trat mit einem raschen Satz dazwischen. Wir sahen uns einen Augenblick an, die Frau Adriani und ich; in diesem Blick war so viel körperliche Intimität, daß mir graute. Dieser Kampf war der Gegenpol der Liebe – wie jeder Kampf. Und in diesem Blick der Augen öffnete sich mir eine tiefe Schlucht: diese Frau war niemals befriedigt worden, niemals. Durch mein Gehirn flitzte jenes zynische Rezept:

      Rp.

      Penis normalis

      dosim

      Repetatur!

      Aber das allein konnte es nicht sein. Hier tobte der Urdrang der Menschheit: der nach Macht, Macht, Macht. Und nichts trifft solch ein Wesen mehr als ein unerwarteter Aufstand. Dann stürzt eine Welt ein. Spartakus … So viele Kinder litten hier. Ich hätte geschlagen. Sie wich zurück.

      Das Mädchen kam mit dem Koffer; wir packten, schweigend. Einmal riß die Frau ein Hemdchen an sich und warf es wieder hin. Das Kind hielt die Hand der Prinzessin. Die Mädchen in ihrer Ecke atmeten kaum. Frau Adriani sah zu ihnen hinüber und ruckte mit dem Kopf, da gingen sie schlurfend zur Tür hinaus. Der Koffer wurde geschlossen. Wir trugen ihn hinunter. Ein Mädchen wollte uns helfen – Frau Adriani verbot es mit einer Handbewegung. Der Koffer war nicht schwer. Das Kind ging eilig mit; es weinte nicht mehr. Ich hörte es einmal tief aufatmen.

      »Die Quittung?« Frau Adriani ging auf ihren Tisch zu, schrieb etwas auf ein Blatt und reichte es mir, wie mit der Feuerzange. Um ein Haar hätte sie mir leid getan, aber ich wußte, wie gefährlich dieses Mitleid war und wie verschwendet. Es hätte ihr nicht einmal gut getan, denn von diesem Seelenhonorar kauft sie sich neue Kulissen, und alles fängt wieder von vorn an. Ich gab ihr den Scheck. Ich sah auf ihr Gesicht. Der Vorhang war heruntergelassen – jetzt wurde nicht mehr gespielt. Das Stück war aus.

      Langsam gingen wir aus dem Hause, in dem das Kind so viel gelitten hatte.

      Keiner von uns sah mehr zurück. Die Haustür wurde geschlossen.

2

      Der letzte Urlaubstag …

      Ich bin schon für die Reise angezogen, zwischen mir und dem Mälarsee ist eine leise Fremdheit, wir sagen wieder Sie zueinander.

      Die langen Stunden, in denen nichts geschah; nur der Wind fächelte über meinen Körper – die Sonne beschien mich … Die langen Stunden, in denen der verschleierte Blick ins Wasser sah, die Blätter zischelten, und der See plitschte ans Ufer; leere Stunden, in denen sich Energie, Verstand, Kraft und Gesundheit aus dem Reservoir des Nichts, aus jenem geheimnisvollen Lager ergänzten, das eines Tages leer sein wird. »Ja«, wird dann der Lagermeister sagen, »nun haben wir gar nichts mehr …« Und dann werde ich mich wohl hinlegen müssen.

      Da steht Gripsholm. Warum bleiben wir eigentlich nicht immer hier? Man könnte sich zum Beispiel für lange Zeit hier einmieten, einen Vertrag mit der Schloßdame machen, das wäre bestimmt gar nicht so teuer, und dann für immer: blaue Luft, graue Luft, Sonne, Meeresatem, Fische und Grog – ewiger, ewiger Urlaub.

      Nein, damit ist es nichts. Wenn man umzieht, ziehen die Sorgen nach. Ist man vier Wochen da, lacht man über alles – auch über die kleinen Unannehmlichkeiten. Sie gehen dich so schön nichts an. Ist man aber für immer da, dann muß man teilnehmen. »Schön habt ihr es hier«, sagte einst Karl der Fünfte zu einem Prior, dessen Kloster er besuchte. »Transeuntibus!« erwiderte der Prior. »Schön? Ja, für die Vorübergehenden.«

      Letzter Tag. So erfrischend ist das Bad in allen den Wochen nicht gewesen. So lau hat der Wind nie geweht. So hell hat die Sonne nie geschienen. Nicht wie an diesem letzten Tag. Letzter Tag des Urlaubs – letzter Tag in der Sommerfrische! Letzter Schluck vom roten Wein, letzter Tag der Liebe! Noch einen Tag, noch einen Schluck, noch eine Stunde! Noch eine halbe …! Wenn es am besten schmeckt, soll man aufhören.

      »Heute ist heute«, sagte die Prinzessin – denn nun stand alles zur Abfahrt bereit: Koffer, Handtaschen, der Dackel, der kleine Gegenstand und wir. »Du siehst aus!« sagte Lydia, während wir gingen, um uns von der Schloßfrau zu verabschieden, »du hast dir je woll mitn Reibeisen rasiert! Keinen Momang kann man den Jung allein lassen!« Ich rieb verschämt mein Kinn, zog den Spiegel und steckte ihn schnell wieder weg.

      Großes Palaver mit der Schloßfrau. »Tack … danke …« und: »Herzlichen Dank! … Tack so mycket …« und »Alles Gute!« – es war ein bewegtes und freundliches Hin und Her. Und dann nahmen wir Ada an die Hand, jeder griff nach einer Tasche, da stand der kleine Motorwagen … Ab.

      »Urlaub jok«, sagte ich. Jok ist türkisch und heißt: weg. »Du merkst auch alles«, sagte die Prinzessin und kämmte das СКАЧАТЬ