Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Автор: Джозеф Конрад
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204113
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»Bier! Soll’s so sein! Wir wollen eins trinken und lustig sein. Denn wir sind stark, und morgen sterben wir!«
Er zog sich die Schuhe an und sprach dabei in seiner kurzen abgerissenen Art weiter:
»Was ist mit dir los, Ossipon? Du siehst trübe aus und suchst sogar meine Gesellschaft. Ich höre, daß du fortwährend an Orten zu sehen bist, wo Männer über Schnapsgläsern Dummheiten schwatzen. Warum? Hast du deine Frauensammlung aufgegeben? Das sind die Schwachen, die die Starken füttern, wie?«
Er stampfte mit einem Fuß auf und zog den zweiten Schuh geschnürt an, einen schweren, oft geflickten Schuh, mit dicker Sohle, ungeschwärzt. Er lächelte grimmig in sich hinein.
»Sag mir, Ossipon, furchtbarer Mann, hat sich je eines deiner Opfer für dich getötet? Oder sind deine Siege in diesem Punkt unvollständig – denn Blut allein besiegelt die Größe. Blut. Tod. Sieh die Geschichte an!«
»Hol’ dich der Teufel«, sagte Ossipon, ohne den Kopf zu wenden.
»Warum? Laß das die Hoffnung der Schwachen sein, deren Gottesglaube die Hölle für die Starken erfunden hat. Ossipon, mein Gefühl für dich ist das freundschaftlicher Verachtung. Du könntest keine Fliege töten!«
Während sie aber auf dem Dach eines Omnibusses zum Abendschoppen fuhren, verlor der Professor seine gute Laune. Die Betrachtung der Massen, die sich über das Pflaster bewegten, erstickte seine Selbstsicherheit unter den drückenden Zweifeln, deren er immer nur Herr werden konnte, wenn er sich eine Zeitlang in dem Zimmer mit dem festverschlossenen Tellerschrank aufgehalten hatte.
Genosse Ossipon, der hinter ihm saß, sprach über seine Schulter: »Und so träumt also Michaelis von einer Welt wie ein schönes, barmherziges Spital?«
»Jawohl. Unendliche Barmherzigkeit für die Heilung der Schwachen«, stimmte der Professor höhnisch zu.
»Das ist dumm«, räumte Ossipon ein. »Schwäche ist nicht zu heilen. Aber vielleicht ist Michaelis schließlich nicht ganz im Irrtum. In zweihundert Jahren werden Ärzte die Welt regieren. Die Wissenschaft regiert jetzt schon. Im Schatten vielleicht – aber sie regiert. Und alle Wissenschaft muß schließlich in der Wissenschaft des Heilens gipfeln – nicht der Schwachen, sondern der Starken. Die Menschheit will leben – leben.«
»Menschheit«, bemerkte der Professor mit einem selbstbewußten Glitzern seiner stahlgefaßten Brillen. »Die Menschheit weiß nicht, was sie will.«
»Aber du weißt es«, grunzte Ossipon. »Eben vorher hast du nach Zeit – Zeit gejammert. Nun gut, die Ärzte werden dir Zeit verschaffen, wenn du etwas taugst. Du nennst dich selbst einen von den Starken – weil du in deiner Tasche Sprengstoff genug herumträgst, um dich selbst und, sagen wir, zwanzig andere Leute ins Jenseits zu befördern. Aber das Jenseits ist ein verdammtes Loch. Du brauchst Zeit. Du – wenn du einen Mann träfst, der dir unter Gewähr zehn Jahre Zeit verschaffen könnte, dann würdest du ihn deinen Meister nennen.«
»Mein Wahlspruch ist: Kein Gott! Kein Meister!« sagte der Professor gemessen, während er sich zum Aussteigen anschickte.
Ossipon folgte ihm. »Warte nur, bis du flach auf dem Rücken liegst, nach Ablauf deiner Zeit«, gab er zurück und sprang nach dem anderen vom Trittbrett ab. »Deines elenden, schäbigen, dreckigen Bißchens Zeit«, fuhr er fort, während er die Straße überquerte und auf den Bürgersteig hüpfte.
»Ossipon, ich glaube doch, daß du ein Schwindler bist«, sagte der Professor und stieß gewandt die Tür des Silenus auf. Als sie sich an einem kleinen Tisch eingerichtet hatten, entwickelte er diesen freundschaftlichen Gedanken weiter. »Du bist nicht einmal Arzt. Aber du bist spaßhaft. Deine Vorstellung einer Menschheit, die in ihrer Gesamtheit die Zunge herausstreckt und von Pol zu Pol auf das Geheiß einiger ernsthafter Witzbolde Pillen nimmt, ist ihres Propheten würdig! Prophet! Wozu über das nachdenken, was sein wird?« Er hob sein Glas. »Auf die Zerstörung von allem, was ist«, sagte er ruhig.
Er trank und fiel in sein merkwürdiges Schweigen zurück. Der Gedanke an eine Menschheit, so zahlreich wie der Sand am Meer, so unzerstörbar und schwer zu behandeln, bedrückte ihn. Der Krach der platzenden Bomben verlor sich in der Unzählbarkeit der Körner ohne Widerhall. Diese Verloc-Sache zum Beispiel – wer dachte noch daran?
Ossipon zog plötzlich, als folgte er einem geheimen Antrieb, ein kleines, zusammengelegtes Zeitungsblatt aus der Tasche. Der Professor hob bei dem Rascheln den Kopf.
»Was ist’s mit der Zeitung? Steht etwas darin?« fragte er.
Ossipon starrte ihn an wie ein überraschter Schlafwandler.
»Nichts. Gar nichts. Das Ding ist zehn Tage alt. Ich habe es in meiner Tasche vergessen, glaube ich.«
Er warf das alte Ding aber nicht weg. Bevor er es wieder in die Tasche steckte, warf er einen verstohlenen Blick auf die letzten Zeilen eines Abschnitts. Die lauteten so: »Ein undurchdringliches Geheimnis scheint für immer über dieser Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung walten zu sollen.«
Das waren die Schlußworte einer kurzen Nachricht mit dem Titel »Selbstmord einer Dame vom Bord eines Kanaldampfers aus.« Dem Genossen Ossipon waren die Schönheiten des Zeitungsstils wohl vertraut. »Ein undurchdringliches Geheimnis scheint für immer …« Er wußte jedes Wort auswendig. »Ein undurchdringliches Geheimnis …« Und der muskelstarke Anarchist ließ den Kopf auf die Brust hängen und verfiel in endlose Träumerei.
Er war durch diese Sache an der Wurzel seines Daseins bedroht. Er konnte keiner seiner vielen Eroberungen, die er auf Bänken im Kensington-Garten oder nächst den Parkgittern traf, nachgehen, ohne fürchten zu müssen, daß er mit einmal in die Erzählung vom Schleier eines undurchdringlichen Geheimnisses verfallen könnte … Er fühlte sich wissenschaftlich beunruhigt bei dem Gedanken, daß der Irrsinn zwischen diesen Zeilen auf ihn lauern könnte. »Für immer über…« Es war wie eine Besessenheit, eine Marter. In letzter Zeit hatte er verschiedenen dieser Verabredungen fernbleiben müssen, die auf grenzenloses Vertrauen in die Sprache des Gefühls und der männlichen Zärtlichkeit gestimmt waren. Die Vertrauensseligkeit verschiedener Klassen von Frauen trug zur Befriedigung seiner Selbstliebe bei und verschaffte ihm einige Mittel. Er brauchte sie zum Leben. Daran lag es. Wenn er nicht länger damit fortfahren konnte, so lief er Gefahr, an Seele und Leib zu verhungern … »Diese Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung.«
»Ein undurchdringliches Geheimnis« mußte allerdings »für immer walten«, soweit die Menschheit in Betracht kam. Wie aber, wenn er allein von allen Menschen das verfluchte Wissen nie loswerden konnte? Und das Wissen des Genossen Ossipon war so gründlich, wie es der Zeitungsmann nur liefern konnte, bis zur Schwelle des »undurchdringlichen Geheimnisses«, das »für immer…«
Genosse Ossipon war gut unterrichtet. Er wußte, was der Matrose vom Deckdienst gesehen hatte: »Eine Dame in schwarzem Kleid und schwarzem Schleier wanderte um Mitternacht am Kai entlang. ›Fahren Sie mit, Madame?‹ hatte er sie aufmunternd gefragt. ›Hier, bitte!‹ Sie schien nicht zu wissen, was sie tun sollte. Er half ihr an Bord. Sie schien schwach zu sein.«
Er wußte auch, was die Aufwärterin gesehen hatte: Eine Dame in Schwarz, mit weißem Gesicht, die mitten in der leeren Damenkajüte stand. Die Aufwärterin redete ihr zu, sich niederzulegen. Die Dame schien jedem Gespräch durchaus abgeneigt СКАЧАТЬ