Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Автор: Джозеф Конрад
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204113
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»In meinem Kummer«, wiederholte Frau Verloc langsam.
»Jawohl.«
»Und wissen Sie, was mein Kummer ist?« flüsterte sie mit sonderbarer Eindringlichkeit.
»Zehn Minuten, nachdem ich die Abendblätter gelesen hatte,« erklärte Ossipon feurig, »traf ich einen Burschen, den Sie vielleicht ein-oder zweimal in dem Laden gesehen haben mögen, und hatte ein Gespräch mit ihm, das mir nicht den geringsten Zweifel mehr ließ. Dann machte ich mich auf und fragte mich, ob Sie – – Ich habe Sie mehr geliebt, als ich sagen kann, schon seitdem ich Sie zum erstenmal gesehen hatte«, rief er aus, als könnte er seine Gefühle nicht länger bezähmen.
Genosse Ossipon nahm mit Recht an, daß keine Frau imstande war, einer solchen Versicherung gar keinen Glauben zu schenken. Doch wußte er nicht, daß Frau Verloc sie mit all der Gier aufnahm, die der Selbsterhaltungstrieb dem Zugriff des Ertrinkenden verleiht. Der Witwe des Herrn Verloc erschien der muskelstarke Anarchist wie ein strahlender Bote des Lebens.
Sie gingen langsam weiter, in gleichem Schritt. »Ich dachte es«, murmelte Frau Verloc schwach.
»Sie haben es in meinen Augen gelesen«, vermutete Ossipon mit großer Bestimmtheit.
»Ja«, hauchte sie in sein geneigtes Ohr.
»Eine Liebe wie die meine konnte einer Frau wie Ihnen nicht verborgen bleiben«, fuhr er fort und versuchte sich dabei materielle Betrachtungen fernzuhalten, wie zum Beispiel den Wert des Ladens und die Höhe des Geldbetrags, den Herr Verloc auf der Bank haben mochte. Er verlegte sich auf die Gefühlsseite der Angelegenheit. Im tiefsten Herzen war er über seinen Erfolg ein klein wenig sittlich entrüstet. Verloc war ein guter Kerl gewesen und gewiß ein sehr anständiger Gatte, soweit man es beurteilen konnte. Doch so oder so wollte Genosse Ossipon seinem Glück, einem toten Mann zuliebe, gewiß nicht aus dem Wege gehen. Entschlossen unterdrückte er sein Mitgefühl mit dem Geist des Genossen Verloc und fuhr fort:
»Ich konnte es nicht verbergen. Ich war zu sehr erfüllt von Ihnen. Ich glaube wohl, daß Sie es in meinen Augen sehen mußten. Doch ich konnte es nicht ahnen. Sie waren immer so fern …«
»Was sonst haben Sie erwartet?« fuhr Frau Verloc auf. »Ich war eine anständige Frau.«
Sie unterbrach sich und fügte dann wie im Selbstgespräch düster hinzu: »Bis er mich zu dem gemacht hat, was ich bin.«
Ossipon überging das und nahm den Faden wieder auf.
»Er ist mir Ihrer niemals ganz würdig erschienen«, begann er und ließ alle Kameradschaft fahren. »Sie hätten ein besseres Geschick verdient!«
Frau Verloc unterbrach ihn bitter:
»Besseres Geschick! Er hat mich um sieben Jahre meines Lebens betrogen!«
»Sie schienen so glücklich mit ihm zu leben.« Ossipon versuchte die Lauheit seines früheren Verhaltens zu entschuldigen. »Das hat mich schüchtern gemacht. Sie schienen ihn zu lieben. Ich war überrascht – und eifersüchtig.«
»Ihn lieben!« rief Frau Verloc gepreßt aus, zwischen Wut und Hohn. »Ihn lieben! Ich war ihm eine gute Gattin. Ich bin eine anständige Frau. Sie dachten, ich liebte ihn! Sie! Sieh doch, Tom – –«
Der Klang dieses Namens kitzelte den Stolz des Genossen Ossipon, denn sein Rufname war Alexander, und nur im engsten Freundeskreise wurde er Tom genannt. Es war ein Freundesname – für Augenblicke der Hingabe. Er hatte keine Ahnung, daß sie ihn je von irgend jemand hatte nennen hören. Es war offenbar, daß sie ihn nicht nur aufgegriffen, sondern in ihrem Gedächtnis, vielleicht in ihrem Herzen gehütet hatte.
»Sieh doch, Tom, ich war ein junges Mädchen, am Ende meiner Kräfte. Ich war müde. Ich hatte zwei Leute, die auf meine Arbeit angewiesen waren, und es schien mir, als könnte ich nicht weiterarbeiten. Zwei Leute – die Mutter und den Jungen. Er gehörte weit mehr mir als der Mutter. Ich hielt ihn nächte-und nächtelang auf dem Schoß, ganz alleine im Oberstock, als ich selbst kaum älter war als acht Jahre. Und dann – er war mein, sage ich dir … Du kannst das nicht verstehen. Kein Mann kann es verstehen. Was sollte ich tun? Da war ein junger Bursche …«
Die Erinnerung an den frühen Roman mit dem jungen Metzger lebte auf, hartnäckig wie das Bild eines zerstörten Ideals, in diesem Herzen, das aus Angst vor dem Galgen bebte und sich wütend gegen den Tod wehrte.
»Das war der Mann, den ich damals liebte«, fuhr Herrn Verlocs Witwe fort. »Ich nehme an, daß auch er es in meinen Augen sehen konnte. Fünfundzwanzig Schilling pro Woche; und sein Vater drohte ihn aus dem Geschäft hinauszuwerfen, wenn er verrückt genug wäre, ein Mädel zu heiraten, das eine bresthafte Mutter und einen blödsinnigen Bruder auf dem Halse hatte. Er wollte trotzdem nicht von mir lassen, bis ich eines Abends die Kraft fand, ihm die Türe vor der Nase zuzuschlagen. Das mußte ich tun. Ich liebte ihn zärtlich. Fünfundzwanzig Schilling die Woche! Dann war da der andere Mann – ein guter Mieter. Was sollte ein Mädchen tun? Konnte ich auf die Straße gehen? Er schien gütig. Jedenfalls wollte er mich haben. Was sollte ich tun, mit der Mutter und dem armen Jungen? Was sollte ich tun? Ich sagte ja. Er schien gutartig, er war freigebig, er hatte Geld. Er sagte niemals etwas. Sieben Jahre – sieben Jahre eine gute Gattin, ihm, dem gütigen, dem großmütigen, dem – Und er liebte mich. O ja. Er liebte mich, bis ich mitunter selbst manchmal wünschte – sieben Jahre. Sieben Jahre sein Weib. Und weißt du, was er war, dein teurer Freund? Weißt du, was er war? … Er war ein Teufel!«
Die übermenschliche Wucht dieser geflüsterten Feststellung verblüffte den Genossen Ossipon völlig. Winnie Verloc fuhr herum, hielt ihn an beiden Armen und sah ihm ins Gesicht; sah ihm ins Gesicht, in der einsamen Dunkelheit von Brett Place, durch den sinkenden Nebel, in dem alle Geräusche des Lebens sich zu verlieren schienen, wie in einem dreieckigen Brunnen aus Asphalt und Ziegeln, aus blinden Häusern und fühllosen Steinen.
»Nein, das wußte ich nicht«, erklärte Ossipon mit einem blitzdummen Gesicht, dessen Komik aber verschwendet war, bei einer Frau, die unter der Angst vor dem Galgen litt. »Jetzt aber weiß ich’s, ich – ich verstehe«, flunkerte er und überlegte dabei, welcher Art Neigungen Verloc unter der schläfrigen, geruhigen Oberfläche seines Ehelebens gefrönt haben mochte. Das war tatsächlich grausig. »Ich verstehe«, wiederholte er und stieß dann in plötzlicher Aufwallung hervor: »Unglückliche Frau!« voll reinen Mitgefühls, anstatt des mehr vertraulichen »Armer Liebling!« das er sonst zu gebrauchen pflegte. Das war kein gewöhnlicher Fall. Er war sich bewußt, daß etwas Außergewöhnliches vorging, und ließ die Größe des Ziels nicht aus den Augen. »Unglückliche, brave Frau!«
Er freute sich über die neuentdeckte Abwechslung, konnte aber nichts anderes mehr finden. »Aber jetzt ist er tot«, war alles, was ihm einfiel. Und in den vorsichtigen Ausruf legte er ein beträchtliches Maß von Feindseligkeit. Frau Verloc griff beinahe fieberhaft nach seinem Arm. »So hast du also erraten, daß er tot ist«, flüsterte sie ganz außer sich. »Du! Du hast erraten, was ich tun mußte! Tun mußte!«
In dem unbestimmbaren Ton dieser Worte klang Frohlocken, Erlösung und Dankbarkeit mit. Ossipons Aufmerksamkeit wurde weit über die Grenze seines sonstigen Künstlerstolzes hinaus angespannt. Er fragte sich, was wohl mit ihr los war, warum sie sich in diesen Zustand wilder Erregung hineingesteigert hatte. Er begann sogar sich zu fragen, ob nicht die ganze Sache in Greenwich Park in der unglücklichen СКАЧАТЬ