Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф Конрад
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Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad

Автор: Джозеф Конрад

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027204113

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СКАЧАТЬ einer Maske, ganz schwarz von Kopf bis zu Fuß, bis auf die paar Blumen auf ihrem Hut, und sah nach der Uhr. Die mußte wohl stehengeblieben sein. Sie konnte nicht glauben, daß nur zwei Minuten vergangen sein konnten, seitdem sie zuletzt darnach gesehen hatte. Natürlich nicht. Sie war die ganze Zeit über nicht gegangen. Tatsächlich aber waren nur drei Minuten vergangen von dem Augenblick an, da sie zum erstenmal, nach dem Stoß, tief und frei aufgeatmet hatte, bis nun, wo Frau Verloc vor dem Entschluß stand, sich in der Themse zu ertränken. Frau Verloc konnte es nicht glauben. Sie schien gehört oder gelesen zu haben, daß Wand-und Taschenuhren immer im Augenblick der Tat stehen blieben, um zur Entdeckung des Mörders mitzuhelfen. Es war ihr gleichgültig: »Zur Brücke – und hinunter.« … Doch ihre Bewegungen waren langsam. Sie schleppte sich mühselig durch den Laden und mußte sich an den Türgriff klammern, bevor sie die nötige Kraft fand zu öffnen. Die Straße erschreckte sie, da sie ja entweder zum Galgen oder zum Fluß führte. Sie taumelte über die Schwelle, den Kopf voran, die Arme ausgebreitet, wie jemand, der sich über ein Brückengeländer stürzt. Dieser Austritt ins Freie gab einen Vorgeschmack des Ertrinkens; ein feuchter Dampf umfing sie, drang in ihre Nüstern, legte sich in ihr Haar. Es regnete nicht gerade, doch hatte jede Gaslampe einen schillernden Hof von Nebel. Der Packwagen mit den Pferden war fort, und in der schwarzen Straße bildete das verhängte Fenster der Kutscherkneipe einen viereckigen, dunkelroten Lichtfleck nahe über der Pflasterhöhe. Während Frau Verloc sich darauf zuschleppte, bedachte sie, daß sie eine recht freundlose Frau war. Das war richtig, so richtig, daß sie in dem plötzlichen Verlangen, ein befreundetes Gesicht zu sehen, an niemand sonst denken konnte als an Frau Neale, die Scheuerfrau. Sie hatte keine eigenen Bekanntschaften. Gesellschaftlich würde sie von niemand vermißt werden. Man muß nicht glauben, daß die Witwe Verloc ihre Mutter vergessen hätte. Das nicht. Winnie war eine gute Tochter gewesen, weil sie eine hingebungsvolle Schwester war. Ihre Mutter hatte immer bei ihr Rückhalt gesucht. Dort war weder Trost noch Rat zu erwarten. Jetzt, da Stevie tot war, schien das Band gerissen. Sie konnte nicht mit der furchtbaren Nachricht vor die alte Frau treten. Überdies war es auch zu weit. Der Fluß war jetzt ihr Ziel. Frau Verloc versuchte, ihre Mutter zu vergessen.

      Jeder Schritt kostete sie eine Willensanstrengung, die die letztmögliche schien. Frau Verloc hatte sich an dem roten Schein des Kneipenfensters vorbeigeschleppt. »Zur Brücke – und hinunter«, wiederholte sie sich mit wilder Hartnäckigkeit. Sie streckte gerade noch rechtzeitig die Hand aus, um an einem Laternenpfahl Halt zu finden. »Niemals komme ich vor dem Morgen dahin«, dachte sie. Die Todesfurcht lähmte ihre Anstrengungen, dem Galgen zu entgehen. Es schien ihr, als kämpfte sie sich schon seit Stunden durch diese Gasse vorwärts. »Niemals komme ich dahin«, dachte sie. »Sie werden mich finden, während ich noch durch die Gasse laufe. Es ist zu weit.« Sie hielt ein und keuchte unter ihrem schwarzen Schleier.

      »Die Fallhöhe betrug vier Meter.«

      Sie stieß den Laternenpfahl heftig von sich weg und fühlte, wie sie weiterschritt. Doch eine neue Woge von Schwäche schlug über sie weg wie eine Sturzsee und spülte ihr das Herz glatt aus der Brust. »Niemals komme ich dahin«, murmelte sie, blieb plötzlich stehen, und schwankte leise hin und her. »Niemals.«

      Angesichts der völligen Unmöglichkeit, bis zur nächsten Brücke zu gehen, dachte Frau Verloc an eine Flucht ins Ausland.

      Der Gedanke kam ihr plötzlich. Mörder entflohen. Sie entflohen ins Ausland. Nach Spanien oder Kalifornien. Bloße Namen. Die weite Welt, zum Ruhm der Menschheit geschaffen, war für Frau Verloc nur ein weiter, weißer Fleck. Sie wußte nicht, welchen Weg sie nehmen mußte. Mörder hatten Freunde, Verwandte, Helfer – hatten Kenntnisse. Sie hatte nichts. Sie war der einsamste aller Mörder, die je einen Todesstreich geführt hatten. Sie war alleine in London: und die ganze Stadt mit ihren Wundern und ihrem Schmutz, mit ihrem Straßengewirr und ihrer Lichtflut, schien in hoffnungslose Nacht versunken, schien auf dem Grunde eines schwarzen Abgrunds zu ruhen, aus dem emporzuklimmen eine Frau ohne Hilfe nicht hoffen durfte.

      Sie schwankte nach vorne und stürzte nochmals blindlings vor, in der quälenden Angst niederzufallen; nach wenigen Schritten aber empfand sie unerwartet das Gefühl von Halt und Sicherheit. Als sie den Kopf hob, sah sie, daß ein Mann dicht unter ihren Schleier spähte. Genosse Ossipon fürchtete sich nicht vor fremden Frauen, und kein falsches Feingefühl konnte ihn davon abhalten, die Bekanntschaft einer offenbar schwer betrunkenen Frau zu suchen. Genosse Ossipon hatte Geschmack an Frauen. Diese hier hielt er zwischen seinen beiden großen Händen aufrecht und maß sie mit geschäftlichem Blick, bis er sie flüstern hörte: »Herr Ossipon!« Da hätte er sie fast zu Boden fallen lassen.

      »Frau Verloc!« rief er aus, »Sie hier!«

      Es schien ihm undenkbar, daß sie getrunken haben sollte. Aber man weiß ja nie. Er ging auf die Frage nicht weiter ein, sondern versuchte, sie an seine Brust zu ziehen, in dem Bestreben, das gütige Geschick nicht zu erzürnen, das ihm die Witwe des Genossen Verloc so in die Hände spielte. Zu seiner Verwunderung gab sie gerne nach und ruhte sogar einen Augenblick in seinem Arm, bevor sie sich freizumachen versuchte. Genosse Ossipon wollte gegen das gütige Geschick nicht unhöflich sein. Er zog ganz natürlich seinen Arm zurück. »Sie haben mich wiedererkannt«, stammelte sie und blieb auf unsicheren Beinen vor ihm stehen.

      »Natürlich tat ich das«, sagte Ossipon mit größter Bereitwilligkeit. »Ich fürchtete, Sie würden stürzen. Ich habe in letzter Zeit zu oft an Sie gedacht, um Sie nicht immer und überall zu erkennen. Ich habe immer an Sie gedacht – seit ich Sie zuerst gesehen habe.«

      Frau Verloc schien nicht zu hören. »Sie wollten in den Laden kommen?« fragte sie fahrig.

      »Ja; sofort«, antwortete Ossipon. »Unmittelbar nachdem ich die Zeitung gelesen hatte.«

      Tatsächlich hatte sich Genosse Ossipon gut zwei Stunden in der Nachbarschaft der Brett Street herumgetrieben, unfähig, einen raschen Entschluß zu fassen. Der muskelstarke Anarchist war nicht eben ein kühner Eroberer. Er erinnerte sich, daß Frau Verloc niemals auf seine Blicke auch nur mit dem kleinsten ermutigenden Zeichen geantwortet hatte. Überdies dachte er, der Laden könnte von der Polizei überwacht sein; und Genosse Ossipon wünschte nicht, der Polizei eine übertriebene Meinung von seinen revolutionären Neigungen beizubringen. Auch jetzt wußte er nicht genau, was zu tun war. Im Vergleich mit seinen gewöhnlichen Liebesgeschichten war dies ein großes und ernsthaftes Unternehmen. Er wußte nicht, wie viel daran war und wie weit er würde gehen müssen, um das zu kriegen, was zu kriegen war – vorausgesetzt, daß überhaupt etwas zu kriegen war. Diese Ratlosigkeit hemmte seinen Schwung und gab seinem Tone eine Nüchternheit, die gut zu den Umständen paßte.

      »Darf ich fragen, wohin Sie gehen?« fragte er halblaut.

      »Fragen Sie nicht«, schrie Frau Verloc mit einem mühsam unterdrückten Schauer. Ihre ganze, wilde Lebenskraft wehrte sich gegen den Gedanken an den Tod. »Ganz gleich, wohin ich wollte …«

      Ossipon schloß daraus, daß sie unerhört aufgeregt, aber ganz nüchtern war. Sie blieb eine Weile schweigend an seiner Seite, tat aber dann plötzlich etwas, was er nicht erwartet hatte. Sie schob ihre Hand unter seinen Arm. Er war von der Tatsache selbst überrascht, aber nicht minder von der fühlbaren Entschlossenheit der Bewegung. Da dies aber eine zarte Angelegenheit war, so benahm sich Genosse Ossipon mit aller Zartheit. Er begnügte sich damit, die Hand leise an seine gewaltigen Rippen zu drücken. Zur gleichen Zeit fühlte er sich vorwärtsgedrängt und gab dem Drängen nach. Am Ende der Brett Street fühlte er, daß er nach links sollte, und folgte.

      Der Obsthändler an der Ecke hatte die glühende Farbenpracht seiner Orangen und Zitronen verhüllt, und Brett Place lag im Dunkeln, nur gesprenkelt durch die Nebelhöfe um die wenigen Lampen, die seine dreieckige Form erraten ließen, und mit einer Traube von drei Lampen an einem Pfosten in seiner Mitte. Die dunklen Gestalten des Mannes und der Frau glitten langsam, Arm in Arm, den Wänden entlang und erweckten in der trostlosen Nacht den Eindruck von Liebenden ohne ein Heim.

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