Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Автор: Джозеф Конрад
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204113
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»Nichts auf der Welt kann mich jetzt aufhalten«, fügte er hinzu und sah seine Frau starr an, die ebenso starr die leere Wand ansah.
Das Schweigen in der Küche hielt weiter an, und Herr Verloc fühlte sich enttäuscht. Er hatte erwartet, daß seine Frau irgend etwas sagen würde. Doch Frau Verlocs Lippen zeigten dieselbe bildhafte Unbeweglichkeit wie ihr übriges Gesicht, und Herr Verloc war enttäuscht. Und doch, das erkannte er an, verlangte der Anlaß eigentlich kein Wort von ihr. Sie war eine sehr wortkarge Frau. Aus Gründen, auf denen seine ganze Psychologie aufgebaut war, neigte Herr Verloc dazu, jeder Frau zu vertrauen, die sich ihm ergeben hatte. Darum vertraute er seiner Gattin. Ihre Übereinstimmung war vollkommen, aber nicht begründet. Es war ein stillschweigendes Übereinkommen, das aus Frau Verlocs Mangel an Neugier herrührte, und aus Herrn Verlocs Haupteigenschaften, der Faulheit und Geheimnistuerei. Beide hielten sich zurück, den Tatsachen und Gefühlen auf den Grund zu gehen.
Diese Zurückhaltung bezeugte einerseits zwar ihr gegenseitiges Vertrauen, brachte aber auch eine Art Ziellosigkeit in ihre engsten Beziehungen. Keine eheliche Verbindung ist vollkommen. Herr Verloc nahm an, daß seine Frau ihn verstanden habe, hätte sie aber gerne ihre Meinung gerade in diesem Augenblick aussprechen hören. Es wäre ihm ein Trost gewesen.
Es gab mehrere Gründe, aus denen ihm dieser Trost versagt wurde. Einen körperlichen: Frau Verloc hatte ihre Stimme nicht hinlänglich in der Gewalt. Ihr blieb nur die Wahl zwischen Schreien und Schweigen, und sie wählte unwillkürlich das Schweigen. Hinzu kam das lähmende Grauen des Gedankens, der sie erfüllte. Ihre Wangen waren bleich, ihre Lippen aschfarben, ihre Reglosigkeit erschreckend. Und sie dachte, ohne Herrn Verloc anzusehn: »Dieser Mensch nahm den Jungen mit sich, um ihn zu morden. Nahm den Jungen aus seinem Heim, um ihn zu morden. Nahm den Jungen von mir fort, um ihn zu morden.«
Frau Verlocs Wesen war durch diesen Gedanken zuinnerst aufgerührt, der sie bei aller Formlosigkeit zum Irrsinn trieb und sie ganz erfüllte, bis in die Adern, die Knochen und die Haarwurzeln hinein. Innerlich nahm sie die biblische Haltung der Trauernden ein – verhülltes Gesicht, zerfetzte Gewänder; der Klang von Jammern und Wehklagen erfüllte ihr Ohr. Doch ihre Zähne waren wütend zusammengebissen, und in ihren tränenlosen Augen brannte die Wut, denn sie war nicht unterwürfig. Der Schmerz um ihren Bruder war von Anfang an nicht frei von stolzer Entrüstung. Sie hatte ihn mit wahrhafter Liebe geliebt. Sie hatte für ihn gekämpft, sogar gegen sich selbst. Sein Verlust hatte die Bitterkeit einer Niederlage, zugleich mit der Qual betrogener Leidenschaft. Das war kein gewöhnlicher Todesfall. Überdies hatte ja auch nicht der Tod Stevie von ihr genommen. Herr Verloc war es, der ihn genommen hatte. Sie hatte ihn gesehen. Sie hatte, ohne eine Hand zu rühren, zugesehen, wie er den Jungen wegführte. Und sie hatte ihn gehen lassen, wie – wie eine Närrin – eine blinde Närrin! Und nachdem er den Jungen umgebracht hatte, war er nun heimgekommen, zu ihr. Einfach heimgekommen, wie jeder andere Mann zu seiner Frau heimkam.
Zwischen zusammengebissenen Zähnen murmelte Frau Verloc gegen die Wand:
»Und ich dachte, er hätte sich erkältet!«
Herr Verloc hörte dieses Wort und griff es auf.
»Es war nichts,« meinte er verdrießlich, »ich war außer mir, deinetwegen.«
Frau Verloc wandte langsam den Kopf und richtete ihren Blick von der Wand weg auf ihren Gatten. Herr Verloc hielt die Fingerspitzen zwischen den Lippen und sah zu Boden.
»Nicht zu ändern«, murmelte er und ließ die Hand sinken. »Du mußt dich zusammennehmen. Du wirst deinen ganzen Witz brauchen. Du warst es, die uns die Polizei auf den Hals gehetzt hat. Macht nichts. Ich will kein Wort weiter darüber verlieren«, fuhr Herr Verloc großmütig fort. »Du konntest es nicht wissen.«
»Ich konnte es nicht wissen«, hauchte Frau Verloc. Es war, als hätte ein Leichnam gesprochen. Herr Verloc nahm den Faden seiner Rede wieder auf.
»Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich will sie schon kitzeln! Wenn ich einmal hinter Schloß und Riegel sitze, dann kann ich in aller Sicherheit reden – du verstehst. Du mußt dich darauf einrichten, daß ich zwei Jahre weg von dir bin«, fuhr er ehrlich betrübt fort. »Das wird für dich leichter sein, als für mich.
Du wirst etwas zu tun haben, während ich – – Schau einmal, Winnie, deine Hauptaufgabe wird es sein, diesen Laden zwei Jahre lang weiter zu führen. Du verstehst genug davon. Du hast einen guten Kopf. Ich werde es dich wissen lassen, wenn die Zeit gekommen sein wird, den Verkauf einzuleiten. Dann wird doppelte Vorsicht nötig sein. Die Genossen werden dich die ganze Zeit über im Auge behalten. Du wirst so verschlagen sein müssen, wie nur möglich, und stumm wie das Grab. Niemand darf wissen, was du vorhast. Ich möchte nicht gerne unmittelbar nach meiner Freilassung einen Hieb über den Schädel oder einen Stich zwischen die Rippen bekommen!«
Also sprach Herr Verloc und strengte seinen erfinderischen Geist an, um die Rätsel der Zukunft zu lösen. Seine Stimme klang düster, da er das richtige Gefühl für die Lage hatte. Alles war gerade so gekommen, wie er es nicht gewünscht hatte. Die Zukunft war in Frage gestellt. Vielleicht hatte seine Urteilskraft vorübergehend gelitten unter der Angst vor Herrn Vladimirs toller Bosheit. Bei einem Mann über Vierzig mag es entschuldbar sein, wenn er durch die Aussicht auf den Verlust seiner Stellung den Verstand verliert, ganz besonders dann, wenn dieser Mann ein Geheimagent der politischen Polizei ist, der sich geborgen wähnt im Bewußtsein seines hohen Wertes und der Wertschätzung hoher Persönlichkeiten. Er war entschuldbar.
Nun hatte die Sache mit einem Krach geendet. Herr Verloc war kalt, aber nicht heiter. Ein Geheimagent, der aus Rachsucht sein Geheimnis den Winden preisgibt und sein verstecktes Tun den Augen der Menge, wird dadurch zur Zielscheibe für verzweifelte und blutdürstige Wut. Ohne die Gefahr unnütz zu übertreiben, versuchte Herr Verloc doch, sie seiner Frau klar vor Augen zu stellen. Er wiederholte, daß er nicht die Absicht habe, sich von den Revolutionären beseitigen zu lassen.
Er sah seiner Frau gerade in die Augen. Die erweiterte Pupille der Frau nahm seinen Blick in ihre unergründlichen Tiefen auf.
»Dazu habe ich dich zu lieb«, sagte er mit einem kurzen, nervösen Lachen.
Eine schwache Röte überflog Frau Verlocs geisterhaftes, bleiches Gesicht. Sobald die Gesichte der Vergangenheit an ihr vorübergezogen waren, hatte sie die Worte ihres Mannes nicht nur gehört, sondern auch verstanden. Infolge ihres grellen Gegensatzes zu ihrem eigenen Gemütszustand hatten diese Worte eine Wirkung, die dem Ersticken nahe kam. Frau Verlocs Gemütszustand hatte den Vorzug der Einfachheit für sich; doch war er nicht gesund. Dazu stand er zu sehr unter dem Einfluß einer fixen Idee. Jede kleinste Windung ihres Hirns war ausgefüllt von dem Gedanken, daß dieser Mann, mit dem sie sieben Jahre lang ohne Widerwillen zusammengelebt hatte, den »armen Jungen« von ihr genommen hatte, um ihn zu töten – der Mann, an den sie sich mit Seele und Leib gewöhnt hatte; der Mann, dem sie vertraut, hatte den Jungen weggenommen, um ihn zu töten! In seiner Form, seinem Gehalt und seiner Wirkung, die umfassend sogar auf das Aussehen unbeseelter Dinge sich zu erstrecken schien, war das ein Gedanke, über dem man still sitzen konnte, ohne aus der Verwunderung herauszukommen. Frau Verloc saß still. Und in ihren Gedanken (nicht in der Küche) wanderte Herrn Verlocs Gestalt auf und ab, wie gewöhnlich in Hut und Überrock, und stampfte mit den Stiefeln auf ihrem Hirn herum. Wahrscheinlich sprach er auch; doch Frau Verlocs Gedanken übertönten meistens seine Stimme.
Dann und wann schuf sich allerdings die Stimme Gehör. Ein paar zusammenhängende Worte tauchten auf, die allgemein zuversichtlich klangen. Bei jedem solchen Anlaß verloren Frau Verlocs erweiterte Pupillen ihre ferne Starrheit und verfolgten СКАЧАТЬ