Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Автор: Джозеф Конрад
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204113
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Es erschreckte ihn, wie sie nun schweigend und ihm unsichtbar in der Küche saß. Wäre nur die Mutter dagewesen! Aber das dumme, alte Weib – – Ein böser Zorn erfüllte Herrn Verloc. Er mußte mit seiner Frau sprechen. Er konnte ihr gewiß sagen, daß ein Mann unter gewissen Umständen verzweifeln muß. Aber er ging nicht unmittelbar daran, ihr diese Eröffnung zu machen. Zunächst einmal sagte er sich, daß an diesem Abend an kein Geschäft zu denken war. Darum ging er hin, um die Haustür zu schließen und die Gasflamme im Laden abzudrehen.
Nachdem er so die Einsamkeit an seinem Herd gesichert hatte, ging Herr Verloc ins Wohnzimmer zurück und sah in die Küche hinunter. Frau Verloc saß an dem Platz, wo der arme Stevie des Abends gewöhnlich zu sitzen pflegte, wenn er zum Zeitvertreib mit Bleistift die endlos sich schneidenden Kreise auf das Papier zeichnete, die an Chaos und Ewigkeit gemahnten. Sie hatte die Arme auf dem Tisch gekreuzt und das Haupt darauf gelegt. Herr Verloc betrachtete eine Zeitlang ihren Rücken und ihre Frisur und trat dann von der Küchentüre weg. Frau Verlocs philosophischer, fast verächtlicher Mangel an Neugier, die Grundlage ihres häuslichen Zusammenlebens, erschwerte es nun ungemein, angesichts dieser traurigen Notwendigkeit mit ihr in Fühlung zu kommen. Herr Verloc empfand diese Schwierigkeit auf das Schmerzlichste. Er wanderte rings um den Wohnzimmertisch, mit dem ihm eigenen Ausdruck eines großen Tieres in einem Käfig. Da die Neugierde eine der Formen der Selbstentblößung ist, so muß ein Mensch, der sich der Neugierde bewußt enthält, immer irgendwie geheimnisvoll bleiben. Sooft Herr Verloc an der Küchentüre vorbeikam, warf er seiner Frau einen queren Blick zu. Nicht, daß er sie gefürchtet hätte. Herr Verloc glaubte sich ja von dieser Frau geliebt. Doch hatte sie ihn nicht daran gewöhnt, Geständnisse zu machen. Und das Geständnis, das er nun zu machen hatte, war groß und schwer. Wie sollte er ihr mangels jeglicher Übung etwas sagen, was er selbst nur unklar empfand: daß es ein schicksalhaftes Zusammenwirken von Umständen gibt; daß mitunter ein Gedanke in einem Hirn wachsen kann, bis er selbständige Form annimmt, aus sich selbst Kraft gewinnt, und sogar Stimme? Er konnte ihr nicht beibringen, daß ein Mann von einem fetten, lustigen, glattrasierten Gesicht verfolgt werden kann, bis ihm selbst das verzweifeltste Mittel, es loszuwerden, tausendmal willkommen erscheint.
Bei dieser Erinnerung an den Ersten Sekretär einer großen Gesandtschaft blieb Herr Verloc im Türrahmen stehen, sah zornig, mit geballten Fäusten, in die Küche hinunter und redete seine Frau an:
»Du weißt nicht, mit was für einem Vieh ich es zu tun hatte.«
Er begann eine neue Wanderung um den Tisch; als er wieder zur Tür kam, blieb er stehen und sah von der Höhe der zwei Stufen hinunter.
»Ein dummes, höhnisches, gefährliches Vieh, mit nicht mehr Verstand als – – Nach all den Jahren! Gegen einen Mann wie mich! Und ich habe meinen Kopf dabei aufs Spiel gesetzt! Du wußtest nichts davon. Ganz mit Recht. Warum hätte ich dir auch sagen sollen, daß ich während all der sieben Jahre, die wir nun verheiratet sind, ständig Gefahr lief, ein Messer in die Brust zu bekommen? Ich bin nicht der Mann, der einer Frau, die ihn liebt, Sorgen macht. Du brauchtest es nicht zu wissen.«
Herr Verloc machte wieder schnaubend einen Rundgang.
»Ein giftiges Vieh«; hob er von der Türschwelle nochmals an. »Möchte mich in eine Sackgasse treiben und da verrecken lassen – so zum Spaß. Ich konnte ja sehen, daß ihm der Spaß verdammt gut gefiel. Gegen einen Mann wie mich! Schau einmal her! Einige der Höchsten auf dieser Welt haben es mir zu danken, daß sie heute noch auf ihren zwei Beinen herumgehen können! Das ist der Mann, den du geheiratet hast, mein Mädel!«
Er bemerkte, daß seine Frau sich aufgerichtet hatte. Frau Verlocs Arm blieb ausgestreckt auf dem Tisch liegen. Herr Verloc beobachtete ihren Rücken, als könnte er dort die Wirkung seiner Worte ablesen.
»Während der letzten elf Jahre gab es keine Mordverschwörung, in der ich nicht mit eigener Lebensgefahr die Finger gehabt hätte. Scharenweise habe ich die Revolutionäre abgeschickt mit den verfluchten Bomben in ihren Taschen, um sie an der Grenze abfangen zu lassen. Der alte Baron wußte, was ich für sein Land wert war. Und dann kommt jetzt plötzlich so ein Schwein daher – ein unwissendes anmaßendes Schwein!«
Herr Verloc trat langsam über die zwei Stufen in die Küche hinunter, nahm ein Glas von der Anrichte und näherte sich damit dem Wasserhahn, ohne nach seiner Frau zu sehen.
»Der alte Baron hätte sicher nicht die verdammte Dummheit begangen, mich um elf Uhr vormittags zu sich zu bestellen. Es gibt zwei oder drei Leute in dieser Stadt, die mir, hätten sie mich hineingehen sehen, ohne jedes Federlesen früher oder später den Kopf eingeschlagen hätten. Es war ein dummer, gefährlicher Streich, für nichts und wieder nichts einen Mann aufs Spiel zu setzen, – einen Mann wie mich!«
Herr Verloc hatte den Hahn aufgedreht und stürzte nun drei Gläser Wasser hinunter, um das Feuer seiner Entrüstung zu löschen. Herrn Vladimirs Verhalten hatte eine verzehrende Glut in ihm entfacht. Er konnte über die Rücksichtslosigkeit darin nicht wegkommen. Dieser Mann, nicht geschaffen für die hart arbeitenden Berufe, die die Gesellschaft ihren niedrig geborenen Mitgliedern vorbehält, hatte seinem geheimen Erwerb mit unermüdlicher Hingabe obgelegen. Herr Verloc war pflichtgetreu. Er war seinen Arbeitgebern treu gewesen, treu der Sache der gesellschaftlichen Ordnung – treu auch seinen Gefühlen, wie sich nun zeigte, da er das Glas zurücksetzte und sich mit den Worten umwandte:
»Hätte ich nicht an dich gedacht, dann hätte ich das höhnische Biest bei der Gurgel gepackt und mit dem Kopf ins Feuerloch gestoßen. Ich wäre ihm leicht Herr geworden, dem rotgesichtigen, glattrasierten –«
Herr Verloc unterließ es, den Satz zu beenden, als könnte es keinen Zweifel über das Schlußwort geben. Zum erstenmal in seinem Leben zog er diese nicht neugierige Frau in sein Vertrauen. Die Besonderheit des Ereignisses, die Stärke und Bedeutung seiner persönlichen Gefühle, die durch die Beichte ausgelöst wurden, drängten Stevies Schicksal glatt aus seinem Bewußtsein. Das zwischen Angst und Empörung pendelnde Dasein des Jungen war zugleich mit seinem gewaltsamen Ende vorläufig aus Herrn Verlocs Gesichtskreis entschwunden. Darum fühlte er sich, als er aufsah, überrascht von dem unerwarteten Ausdruck im Blick seiner Frau. Der Blick war nicht wild und auch nicht unaufmerksam, doch war seine Aufmerksamkeit sonderbar und unerfreulich, da sie auf irgendeinen Punkt hinter Herrn Verlocs Person gesammelt schien. Der Eindruck war so stark, daß Herr Verloc über die Schulter zurücksah. Es war nichts hinter ihm: nur die weißgetünchte Wand. Der ausgezeichnete Gatte von Winnie Verloc sah keine Schrift auf dieser Wand. Er wandte sich abermals zu seiner Frau und wiederholte nicht ohne Schwung:
»Ich hätte ihn bei der Gurgel genommen. So wahr ich hier stehe, hätte ich nicht an dich gedacht, so hätte ich aus dem Viehkerl das Leben halb herausgewürgt, bevor ich ihm erlaubt hätte, aufzustehen. Und glaube du ja nicht, daß er etwa nach der Polizei gerufen hätte. Er hätte es nicht gewagt. Du verstehst wohl warum – nicht wahr?«
Er zwinkerte seiner Frau wissend zu.
»Nein«, sagte Frau Verloc mit klangloser Stimme und ohne ihn anzusehen. »Wovon sprichst du?«
Eine große Entmutigung, das Ergebnis tiefer Ermüdung, überkam Herrn Verloc. Er hatte einen schweren Tag hinter sich, und seine Nerven waren bis zum äußersten beansprucht worden. Nach einem Monat voll erdrückender Mühsal, die mit einer unerwarteten Katastrophe geendet hatte, verlangte Herrn Verlocs sturmgepeitschtes Gemüt nach Ruhe. Seine Laufbahn als Geheimagent war auf eine СКАЧАТЬ