Ob und was er ihr sonst noch über seine Tätigkeit gesagt hatte, konnte Winnies Mutter nicht herausbringen. Das Ehepaar nahm sie samt ihrer Einrichtung mit. Der kümmerliche Eindruck des Ladens überraschte sie, die Übersiedlung vom Belgravia-Platz in die enge Gasse in Soho hatte eine üble Wirkung auf ihre Beine, die ganz ungeheuerlich anschwollen. Andrerseits empfand sie wohltuend die völlige Freiheit von Geldsorgen. Die gewichtige Gutmütigkeit ihres Schwiegersohnes gab ihr das Gefühl völliger Geborgenheit. Die Zukunft ihrer Tochter war unstreitig gesichert, und sogar um ihren Sohn Stevie brauchte sie nicht länger bekümmert zu sein. Sie hatte sich nicht verbergen können, daß er eine böse Last war, der arme Stevie. Doch angesichts von Winnies Liebe für den bresthaften Bruder und von Herrn Verlocs Güte und freigebiger Gemütsart fühlte sie, daß der arme Junge vor den Tücken dieser rauhen Welt doch geschützt war, und im Innersten ihres Herzens war es ihr vielleicht gar nicht unlieb, daß die Verlocs keine Kinder hatten. Da dieser Umstand Herrn Verloc selbst völlig gleichgültig schien, und Winnie in ihrem Bruder ein Ziel für ihre mütterlichen Triebe fand, war es so für den armen Stevie wohl das beste.
Denn der Junge war nicht leicht zu haben; er war zart und in bescheidenem Maße auch hübsch, wenn man davon absehen wollte, daß er die Unterlippe so täppisch hängen ließ. Unter unserem ausgezeichneten System zwangsweiser Schulbildung hatte er übrigens lesen und schreiben gelernt, trotz dem unvorteilhaften Aussehen seiner Unterlippe. Als Laufjunge allerdings hatte er keinen wesentlichen Erfolg zu verzeichnen. Er vergaß seine Aufträge; allzuleicht ließ er sich von dem engen Pfade der Pflicht weglocken, durch den Anreiz streunender Katzen und Hunde, denen er durch enge Durchlässe bis in trübe Hinterhöfe folgte; durch die Komödien der Straße, denen er mit offenem Munde anwohnte, zum Schaden seiner Auftraggeber, oder durch die Tragödien gestürzter Pferde, deren heftiges Pathos ihn oft zu durchdringendem Schreien zwang, mitten in einer Menge, der es mißfiel, in dem ruhigen Genuß des nationalen Schauspiels durch schmerzliche Töne gestört zu werden. Wurde er dann von einem ernsten Schutzmann väterlich hinweggeleitet, so ergab es sich oft, daß der arme Stevie seine Adresse vergessen hatte, wenigstens vorübergehend. Eine plötzliche Frage ließ ihn stottern bis zum Ersticken. Aus Schreck über irgend etwas Unerwartetes begann er scheußlich zu schielen. Immerhin hatte er niemals Krämpfe (was doch ein Trost war), und vor den natürlichen Ausbrüchen von Ungeduld seitens seines Vaters konnte er sich immer, in den Tagen der Kindheit, in den Schutz der kurzen Röcke seiner Schwester Winnie flüchten. Andrerseits war der Verdacht gerechtfertigt, daß sich ein Schatz bedeutender Ungezogenheit in ihm verberge. Als er vierzehn Jahre alt geworden war, hatte ihm ein Freund seines verstorbenen Vaters, ein Vertreter einer ausländischen Firma für Büchsenmilch, versuchsweise die Stelle eines Kontorlehrlings übertragen. Dabei wurde er an einem nebligen Nachmittage, in Abwesenheit seines Chefs, überrascht, wie er im Stiegenhaus emsig Feuerwerk abbrannte. Rasch hintereinander ließ er ein Paket stolzer Raketen los, wütende Feuerräder und Knallfrösche dazwischen, und die Sache hätte leicht recht böse ausgehen können. Eine furchtbare Panik verbreitete sich durch das ganze Haus. Wild blickende, halberstickte Schreiber trampelten durch die raucherfüllten Flure, seidene Glanzhüte und ältere Geschäftsleute wurden gesehen, wie sie getrennt voneinander über die Stiege hinunterrollten. Stevie schien von seiner Tat keine persönlichen Vorteile zu erwarten, die Beweggründe für sein eigenartiges Vorgehen waren schwer zu entdecken; erst viel später gelang es Winnie, ihn zu einem verworrenen und schleierhaften Geständnis zu bringen, und darnach schien es, als ob zwei andere Lehrlinge in dem Geschäftshause ihn mit Erzählungen von Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen bearbeitet hatten, bis sein gesteigertes Mitgefühl sich in dem erwähnten Ausbruch Luft gemacht hatte. Der Freund seines Vaters aber entließ ihn auf der Stelle, um, wie er sagte, sein Geschäft vor völligem Niedergang zu bewahren. Nach diesem Beweis werktätiger Nächstenliebe wurde Stevie dazu verwendet, in der Küche im Erdgeschoß Geschirr zu waschen und den Stammgästen des Hauses am Belgravia-Platz die Schuhe zu putzen. Diese Tätigkeit bot ganz offenbar keine Zukunft. Die Gentlemen steckten ihm dann und wann einen Schilling zu. Herr Verloc erwies sich als der freigebigste unter ihnen, aber auch seine Gabe mitgerechnet, konnte von Gewinn oder Zukunftsaussichten nicht die Rede sein, so daß, als Winnie ihre Verlobung mit Herrn Verloc ankündigte, ihre Mutter mit einem Blick in die Spülkammer einen Seufzer und die stumme Frage nicht unterdrücken konnte, was aus dem armen Stevie nun wohl werden würde?
Es ergab sich, daß Herr Verloc bereit war, den Jungen zugleich mit der Mutter seiner Frau und der Einrichtung, die das gesamte sichtbare Vermögen der Familie darstellte, mit hinüber zu nehmen. Herr Verloc nahm alles, wie es kam, an seine breite, gutmütige Brust. Die Einrichtung wurde aufs beste im ganzen Hause verteilt; Frau Verlocs Mutter mußte sich aber auf die zwei Hinterzimmer im ersten Stock beschränken. In einem davon schlief der unglückliche Stevie. Zu dieser Zeit hatte ein dünner Flaum, wie ein goldener Nebel, die scharfe Linie seines kümmerlichen Unterkiefers zu umsäumen begonnen. Er half seiner Schwester mit blinder Liebe und Gelehrigkeit in ihren Haushaltspflichten. Herr Verloc war der Meinung, daß ihm einige Beschäftigung gut tun würde. Seine freie Zeit brachte er damit zu, mit Zirkel und Blei Kreise auf ein Stück Papier zu ziehen. Diesem Zeitvertreib gab er sich mit größtem Eifer hin, mit ausgebreiteten Ellenbogen tief über den Tisch gebeugt. Durch die offene Tür des Wohnzimmers hinter dem Laden sah Winnie von Zeit zu Zeit nach ihm, mit einem Blick voll mütterlicher Wachsamkeit.
II
Dies also war das Haus, der Haushalt und der Laden, die Herr Verloc hinter sich ließ, als er sich um halb elf Uhr morgens nach Westen zu auf den Weg machte. Das war für seine Verhältnisse ungewöhnlich früh; seine ganze Persönlichkeit hauchte den Zauber tauiger Frische aus, er trug seinen blauen Tuchüberzieher offen, seine Stiefel glänzten, seine Wangen, frisch barbiert, hatten eine Art Glasur, und sogar seine Augen unter den schweren Lidern sandten, erfrischt nach einer Nacht friedlichen Schlummers, verhältnismäßig muntere Blicke aus. Durch die Gitter des Parkes trafen diese Blicke Männer und Frauen, die in der Allee ritten; Paare, die einträchtig dahingaloppierten; andere, die gemäßigt vorwärtsschritten; müßige Gruppen von drei oder vier; einzelne Reiter, die wie Eigenbrödler wirkten, und einzelne Damen, in großem Abstand gefolgt von Stallburschen mit einer Kokarde auf dem Hut und einem Ledergürtel über dem eng sitzenden Leibrock. Wagen rollten vorbei, vor allem zweispännige Kaleschen, dann und wann auch eine Viktoria, mit irgendeinem Raubtierfell darinnen und dem Antlitz und Hut einer Frau über dem zusammengeklappten Wagendach. Und eine eigene Londoner Sonne – gegen die nichts weiter gesagt werden konnte, als daß sie blutunterlaufen aussah – überstrahlte alles das mit ihrem Glanz. Sie hing in mäßiger Höhe über Hyde Park Corner, wie mit pünktlicher und wohlwollender Wachsamkeit. Sogar das Pflaster unter Herrn Verlocs Füßen hatte eine Altgoldtönung in dem gedeckten Licht, in dem weder Mauer, noch Baum, noch Tier, noch Mensch Schatten warf. Herr Verloc schritt nach Westen, durch eine Stadt ohne Schatten, in einer Atmosphäre von zerstäubtem Altgold. Rotkupfrige Glanzlichter lagen auf Hausdächern, auf Mauerecken, auf Wagenwänden, ja sogar noch auf dem Fell der Pferde und auf dem Rückteil von Herrn Verlocs Überzieher, wo sie entfernt wie Rost wirkten. Doch Herr Verloc war sich nicht im entferntesten bewußt, verrostet zu sein. Er verfolgte durch das Parkgitter mit beifälligen Blicken die Schaustellung des Überflusses und Wohllebens der Stadt. Alle diese Leute mußten beschützt werden; Schutz ist das erste Bedürfnis bei Überfluß und Wohlleben. Sie mußten beschützt werden; und ihre Pferde, Wagen, Häuser, Diener mußten beschützt werden, und die Quelle ihres Wohlstandes mußte beschützt werden, im Herzen der Stadt und im Herzen des Landes; die ganze gesellschaftliche Ordnung, die ihnen ihre gesunde Untätigkeit СКАЧАТЬ