Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Автор: Джозеф Конрад
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204113
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Nein, sie begruben mich nicht, obwohl es eine Zeitspanne gibt, an die ich mich nur nebelhaft erinnere, mit einer fröstelnden Verwunderung, wie an die Durchquerung einer unbegreiflichen Welt, in der es keine Hoffnung und keine Sehnsucht gab. Ich fand mich in der Grabesstadt wieder und litt unter dem Anblick der Leute, die durch die Straßen eilten, um einander ein wenig Geld abzuknöpfen, ihre unwürdige Kost zu verschlingen, ihr unmögliches Bier hinunterzuschütten, ihre unbedeutenden, dummen Träume zu träumen. Sie verwirrten meine Gedankengänge. Sie waren Eindringlinge, deren Wissen vom Leben mir eine aufreizende Anmaßung schien, denn ich war sicher, daß sie die Dinge nicht wissen konnten, die ich wußte. Ihr Gebaren, das ganz einfach das von Durchschnittsmenschen war, die im Bewußtsein völliger Sicherheit an ihre Geschäfte gehen, machte mich rasend, als hätten sie sich angesichts einer Gefahr, die sie nicht verstanden, in närrischem Getue gefallen. Ich fühlte keine besondere Sehnsucht, sie aufzuklären, mußte mich aber zurückhalten, um ihnen nicht gerade in die Gesichter zu lachen, die so voll dummer Wichtigkeit waren. Ich kann wohl sagen, daß mir die ganze Zeit über nicht recht wohl war. Ich schlenderte durch die Straßen – es gab verschiedene Geschäfte zu erledigen – und grinste durchaus ehrenwerte Personen bitter an. Ich gebe zu, daß mein Benehmen unentschuldbar war, meine Temperatur aber war ja in jenen Tagen auch selten normal. Die Bemühungen meiner lieben Tante, mich wieder ›aufzupäppeln‹, schienen zur Fruchtlosigkeit verdammt. Nicht meine Körperkraft war es, die ein Aufpäppeln brauchte, sondern meine Einbildungskraft mußte beruhigt werden. Ich bewahrte das Briefpaket, das Kurtz mir gegeben hatte, auf, ohne genau zu wissen, was ich damit tun sollte. Seine Mutter war kürzlich gestorben, gepflegt, wie man mir sagte, von des Sohnes Braut. Ein glattrasierter Mann von amtlichem Gebaren, mit goldgefaßter Brille, besuchte mich eines Tages und forschte erst unauffällig, dann mit leisem Nachdruck nach gewissen Dingen, die er ›Dokumente‹ zu nennen beliebte. Ich war nicht überrascht, denn ich hatte schon dort draußen deswegen zweimal Streit mit dem Direktor gehabt. Ich hatte es abgelehnt, auch nur den kleinsten Zettel aus dem Paket herauszurücken, und nahm nun auch dem bebrillten Mann gegenüber die gleiche Haltung ein. Schließlich wurde er dumpf drohend, behauptete recht hitzig, daß die Gesellschaft ein Recht auf jede kleinste Auskunft hätte, die aus ihren Territorien stammte, und meinte: ›Herrn Kurtz’ Kenntnisse der unerforschten Gebiete scheinen bestimmt tiefreichend und eigenartig zu sein – wegen seiner großen Fähigkeiten und der bedauernswerten Verhältnisse, in die er geraten war: darum –‹ Ich versicherte ihm, daß Herrn Kurtz’ Kenntnisse, wie tiefreichend sie auch gewesen sein mochten, sich weder auf Handels-noch Verwaltungsprobleme erstreckten. Dann rief er den Namen der Gesellschaft an: ›Es wäre ein unberechenbarer Schaden, wenn …‹ und so weiter. Ich bot ihm den Bericht über ›Die Unterdrückung wilder Sitten‹ an, von dem ich die Nachschrift abgerissen hatte. Er nahm ihn hastig entgegen, gab ihn aber bald mit einem verächtlichen Naserümpfen zurück. ›Das ist es nicht, was wir ein Recht hatten, zu erwarten‹, bemerkte er. ›Erwarten Sie nichts weiter‹, sagte ich. ›Es gibt nur noch Privatbriefe.‹ Er zog sich unter Androhung gesetzlicher Schritte zurück, und ich sah ihn nie wieder; zwei Tage später aber erschien ein anderer Bursche, der sich Kurtz’ Vetter nannte und sich ernstlich besorgt zeigte, alle Einzelheiten über die letzten Augenblicke seines lieben Verwandten zu erfahren. Beiläufig gab er mir zu verstehen, daß Kurtz im Grunde ein großer Musiker gewesen sei. ›Er hätte es zu fabelhaften Erfolgen bringen können‹, sagte der Mann, der, soviel ich weiß, ein Organist war, mit schlichtem grauem Haar, das ihm über den fettigen Rockkragen fiel. Ich hatte keinen Grund, seine Behauptungen anzuzweifeln; und bis heute kann ich noch nicht sagen, was Kurtz’ Beruf war, ob er überhaupt je einen hatte, und welches das stärkste seiner Talente war. Ich hatte ihn für einen Maler gehalten, der für die Zeitungen schrieb, oder für einen Journalisten, der malen konnte – doch sogar der Vetter (der während unserer Unterhaltung Tabak schnupfte) konnte mir nicht sagen, was er eigentlich gewesen war. Er war ein Universalgenie – darin stimmte ich mit dem alten Knaben überein, der sich daraufhin geräuschvoll in ein großes baumwollenes Taschentuch schneuzte und in greisenhafter Aufregung davonging, nachdem er einige Familienbriefe und Aufzeichnungen ohne Bedeutung an sich genommen hatte. Schließlich tauchte noch ein Journalist auf, der begierig schien, etwas über das Schicksal seines ›lieben Kollegen‹ zu erfahren. Dieser Besuch unterrichtete mich, daß Kurtz’ eigentliches Wirkungsgebiet die ›Politik für das Volk‹ hätte sein sollen. Der Mann hatte buschige, gerade Augenbrauen, kurzgeschorenes, borstiges Haar, trug ein Augenglas an breitem Band und gestand mir, als er etwas wärmer geworden war, daß seiner Überzeugung nach Kurtz überhaupt nicht schreiben konnte – ›aber, bei Gott, wie konnte der Mann reden! Er riß ganze Versammlungen mit sich fort. Er hatte Glauben, verstehen Sie mich? Er hatte den Glauben. Er konnte sich dazu bringen, alles zu glauben, einfach alles. Er hätte für eine extreme Partei einen glänzenden Führer abgegeben.‹ – ›Was für eine Partei?‹ fragte ich. ›Irgendeine Partei‹, antwortete der andere. ›Er war ein – ein – Extremist.‹ Ob ich nicht auch so dächte? Ich stimmte ihm bei. In einem plötzlichen Aufblitzen von Neugierde fragte er mich, ob ich wüßte, was ihn dazu gebracht hatte, hinauszugehen. – ›Jawohl‹, sagte ich und händigte ihm sofort den berühmten Bericht zur Veröffentlichung aus, falls er ihm passend erscheinen sollte. Er überflog ihn hastig, murmelte dabei unaufhörlich vor sich hin, meinte, es würde schon gehen und verschwand mit seiner Beute.
So blieb mir schließlich nur noch ein dünnes Paket Briefe und das Bild des Mädchens. Sie kam mir wunderschön vor, ich meine, ihr Ausdruck war wunderschön. Ich weiß ja, daß man auch das Sonnenlicht dazu bringen kann, zu lügen, und doch fühlte man, daß keine geschickte Zurechtmachung von Licht und Stellung den zarten Schimmer über dieses Gesicht gelegt haben konnte. Sie schien bereit, zuzuhören ohne inneren Vorbehalt, ohne Mißtrauen, ohne jeden Gedanken an sich selbst. Ich beschloß, hinzugehen und ihr das Bild und die Briefe persönlich zu übergeben. Neugierde? Gewiß. Und vielleicht auch noch ein anderes Gefühl. Alles, was Kurtz einmal besessen hatte, war mir aus den Händen geglitten; seine Seele, sein Leib, seine Station, seine Pläne, sein СКАЧАТЬ