Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer. Heinz Florian Oertel
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СКАЧАТЬ Florian Oertel über seinen Jahrgang

      27er, na und?

      Richtig, geschätzter und kritischer Leser – na und? Warum sollten 27er, also 1927 Geborene, was Besseres oder Interessanteres sein als 28er, 29er, 30er … und, und, und? Dennoch wird es vielen Menschen ähnlich gehen, nämlich wissen zu wollen, wer ist auch so alt, so jung wie ich? Mit welchen Lebensabläufen lässt sich meiner vergleichen?

      Sicherlich sind das nicht die himmelbewegenden Fragen, aber … Warum auch nicht?

      Mir schickte ein Freund zum Geburtstag eine originelle Glückwunschkarte. Vorn prangt bunt die Superfeststellung: 1927 war ein Spitzen-Jahrgang. Ich machte mir dann nicht die Mühe, nachzuprüfen, ob das auf allen ähnlichen Pappen auch behauptet wird. Ich vermute stark: ja. Immer.

      Also zum 27er »Spitzenjahrgang«!

      Als mich im Cottbuser Osten damals eine Hebamme (die ich später persönlich kennenlernte) aus dem Körper meiner Mama Anna Bombeck-Oertel »befreite«, lebten in Deutschland 64023619 Einwohner. Mithin, ich wurde für Sekunden der »Einmalige« 64023620ste, ein fast neun Pfund schwerer Dicker. Meine Mutter brachte mich an einem Sonntag, dem 11. Dezember, um 11 Uhr vormittags auf die Welt. Ich bin Schütze-Kind und hatte tatsächlich viel, viel Glück.

      Hans Rosenthal wäre jetzt hochgesprungen: »Das ist … – Spitze!«

      Ich sage: Danke, Mama und Papa. Im Himmel sehen wir uns wieder.

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      Heinz Florian Oertel mit Mutter, Vater und Schwester, 1934

      Heinz Florian Oertel

      als …

      … Kind

      Herkunft

      Ich schäme mich, dass ich mich schämte.

      Riefen die Lehrer einzelne Schüler auf und fragten nach den Eltern, Beruf des Vaters und so weiter, bekam ich rote Ohren. Immer hoffte ich, man würde mich übersehen. Blätterten andere im Klassenbuch, wo bekanntlich alles Schwarz auf Weiß zu lesen war, duckte ich ab. Links und rechts antworteten Mitschüler: »Mein Vater ist Apotheker«, »Meiner ist Chemiker«, »Ingenieur«, »Studienrat«, »Bibliothekar« … Da konnte ich nicht mithalten. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mein »Weber« oder »Tuchmacher« murmelte, grinsten die anderen. Später musste mein Vater, der bis dahin wegen einer Herzgeschichte nicht einberufen wurde, in einen Rüstungsbetrieb. Dort stank es jämmerlich nach allen möglichen Giften. Aus allem machte man Kunstfasern und wer weiß noch was. Jetzt nannte sich Vater Chemiewerker. Mich verführte das zum Schwindeln. Kam ein neuer Lehrer, viele bekannte verschwanden in letzte Wehrmachtsaufgebote, und fragte nach dem Vater, nuschelte ich ein Mischmaschwort wie »Chemwiker« …

      Warum, dachte ich hundertmal, warum bin ich gerade so, hierher geboren? Mein Vater Weber in einer Tuchfabrik an der Spree, meine Mutter Reinemachefrau im Lehrerbildungsinstitut um die Ecke. Und wir wohnten zu viert in Stube und Küche. Mutter, Vater, Schwester und ich. Bis zu meinem vierzehnten Geburtstag. Nach der Schule brachte ich Vater das Essen in die Fabrik. Ich trug seine abgelegten Schuhe und gestopften Pullover. Einen Wintermantel kannte ich nicht. Zur Konfirmation bekam ich mein erstes eigenes Jackett.

      Warum schämte ich mich?

      Ich wusste, andere wohnen besser. Meine Klassenkameraden besitzen richtiges Sportzeug, Fußballstiefel, Badezeug, im Winter Skier, manche ein Fahrrad. Für mich: Fehlanzeige. Weihnachten, wenn es anderswo trotz der miserablen Zeit noch Geschenke gab, Neues, pinselte Vater auf meine Spielsoldaten neue Dienstgrade. Aus einem Gefreiten machte er per Pinselwinkel einen Obergefreiten, aus einem Leutnant mit Klecks einen Oberleutnant. Das war’s. Halt, und dazu mein Lieblingsessen: Kartoffelsuppe mit Bockwurst. In der Schule rangierte ich mit den Leistungen vor vielen, aber die lagen dafür im Leben vorn. Das wurmte. Immer wieder.

      Vater konnte für seine Herkunft so wenig wie ich für meine. Die Oertels stammten aus Niederschlesien und waren meist Arbeiter. Vater wuchs zudem in einer ähnlich erbärmlichen Zeit auf. Im Ersten Weltkrieg waren fast alle Lehrer an die Front beordert. Immer wieder fiel Unterricht aus. Entsprechend war das Lernniveau. So »ausgebildet«, geriet er auf den Arbeitsmarkt der Nachkriegsjahre. Eine Katastrophe. Null Berufschancen. So, wie heute wieder für viele junge Leute. Dann glückte eine kurze Bäckerlehre. Es folgte Arbeitslosigkeit. Viele Jahre. Weimarer Republik. Und dann kamen wir. Zuerst ich, dann meine Schwester.

      Mein Cottbus

      Sprem, Cottbuser Kürzel für Spremberger Straße. Die Straße der Stadt. Überheblich ließe sich auch feststellen – unser Ku’damm. Oben, am südlichen Ende, überragt der Spremberger Turm altbürgerliche Wohn- und Geschäftshäuser, Banken und vorbeiquietschende Straßenbahnen. Dieser dicke Turm mit seinem steinernen Bauch ist fast so alt wie meine Heimatstadt, die immerhin schon über 770 stolze Jahre auf dem Buckel trägt. Hussiten bissen sich am Turm die Zähne aus und Wallensteins Plünderer. Er nahm Pestkranke auf und später hugenottische Emigranten. Dann rissen ihm der Siebenjährige Krieg und Napoleons Truppen Wunden. Baumeister Schinkel heilte sie mit neuen Zinnenkronen, die noch immer halten.

      Mich brachten der Zufall und natürlich meine Mutter in Cottbus auf die Welt. Ich liebe die Stadt. Früher hieß sie Chotibus, Godebuz, Choschobuz und Kottbus, Sorbisch immer Chosebuz. An ihrem Wahrzeichen, dem Turm, nahm vieles seinen Lauf. Beim Dickbäuchigen hatte ich mein erstes Rendezvous …

      Mein erster Lehrer

      Lebte er noch, ich könnte ihn jeden Tag umarmen. Meinen ersten Grundschulklassenlehrer, Herrn Hildebrand. Nie hatten wir herausbekommen, wie er mit Vornamen hieß. Doch das tut längst nichts mehr zur Sache. Was mir aber Herr Hildebrand schenkte, wie er mir vorentscheidende Lebensweichen stellte, das bleibt unvergessen. Als ich in der vierten Klasse war, bekam ich eine sogenannte Freistelle, so dass ich auf die Mittelschule gehen konnte. Meine Mutter freute sich sehr, aber mein Vater war unsicher. Ich sehe es noch vor mir: Vater ging eines Abends mit mir in den Cottbusser Ortsteil Ströbitz, wo Lehrer Hildebrand wohnte. Dort klopften wir an seine Tür. Was ist denn? Ich bin der und der, sagte mein Vater, und mache das und das, und ich will nur fragen, kommen da größere Kosten auf uns zu? Nein, wir haben doch gesagt, der Junge kriegt eine Freistelle. Aber trotzdem, die Bücher und Hefte und alles, kostet das nicht doch? Nein, nein, dafür wird schon gesorgt werden. Damit waren die Zweifel aus dem Weg geräumt, und so trat es auch ein. Ich habe später, als ich sechzehn war, für die Oberschule wieder eine Freistelle bekommen.

      Musterschüler

      Ich gehörte zu den ganz guten Aufsatzschreibern. Noch besser war ich aber als Gedichteaufsager. Das brachte mir auch den Respekt der Klassenkameraden, weil ich ihnen oft aus der Patsche half. Jeder weiß von solchen Situationen: Der Deutschlehrer stellt die Hausaufgabe, bis zur nächsten Woche beispielsweise Schillers »Glocke« zu lernen. Dann ist es so weit.

      »Wer meldet sich freiwillig? Na …?«

      Schweigen im Klassen-Wald. Das war meine Chance.

      »Ich!«

      Ein zufriedener Lehrer sah das Eis gebrochen, und für die Mitschüler waren die lähmenden Peinlichkeitssekunden vorbei. Ich hatte sie erlöst. Was andere irritierte, manche total verunsicherte, machte mir Spaß. Vorn zu stehen, Auge in Auge mit teils verlegenem, teils feixendem Publikum. Ich legte los.

      Rilke

      Jede СКАЧАТЬ