Название: Orbáns Ungarn
Автор: Paul Lendvai
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
isbn: 9783218010481
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Sein damaliger Berater und späterer Biograf József Debreczeni hat nach Orbáns katastrophaler Niederlage im Sommer 1994 mit ihm ein langes Interview für sein Buch über den verstorbenen Ministerpräsidenten Antall auf Band festgehalten. Die nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Überlegungen wurden nur acht Jahre später, diesmal in seiner ersten Orbán-Biografie, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die außerordentliche Schärfe der Kritik Orbáns an Antall wirkte deshalb für die Leser so verblüffend, weil in der Zwischenzeit Fidesz-Propagandisten ganze Legenden verbreitet hatten, wonach der Ministerpräsident kurz vor seinem Tod dem jungen Nachwuchspolitiker persönlich eine Art politisch-persönliches Vermächtnis übertragen hätte. Im Gespräch mit Debreczeni warf Orbán ihm nun jedoch vor, für eine künftige rechtsbürgerliche Regierung keine Kommunikations- oder Wirtschaftsbasis hinterlassen zu haben: »Antall trägt die persönliche Verantwortung. Nicht deshalb, weil wir in Opposition sind, sondern deshalb, weil wir pudelnackt, mit nacktem Hintern, in der Opposition sind … Es gibt keine einzige Zeitung. Ein Teil der Blätter wurde geklaut, er ließ es zu, dass die anderen vor seiner Nase gestohlen wurden, und den anderen Teil ließ er in Staatsbesitz … Es gibt kein Radio, keinen TV-Kanal. Es gibt nichts. Dafür gibt es keine Entschuldigung.«
Den anderen Hauptfehler erblickte Orbán darin, dass der verstorbene Ministerpräsident »den Ausbau persönlicher Kontakte mit den acht bis zehn Großkapitalisten versäumt hatte … Was hätte man tun sollen? Vor den Bankiers klarstellen, diese acht bis zehn Personen sind unsere Leute … Und dann zulassen, dass das Geschäft nach seiner Logik den Rest ordnen würde. Man hätte vielleicht bei den Investitionsfonds, bei den Ausschreibungen diesen Leuten etwas helfen können … Nach einer internationalen Verhandlung wurde er in kleinem Kreis gefragt, warum er mögliche Wirtschaftsprojekte nicht vorgeschlagen habe. Darauf sagte Antall, er sei nicht gekommen, um Geschäfte zu machen, sondern um die Positionen des Landes zu verbessern. Diese Sachen gehörten laut ihm nicht zur Politik, obwohl diese die Substanz der Politik ausmachen. Er hatte eben kein Gefühl für so etwas. Überhaupt kein Gefühl.« Diese Bemerkungen zeigen bereits das Verhältnis des jungen Politikers zum Machterwerb und zur Machtbehauptung ebenso wie sein Verständnis von politischer Kommunikation und »Medienmanagement«.
Im Einklang mit diesen lehrreichen Erfahrungen aus den vermeintlichen Versäumnissen seines Vorgängers hat Orbán bereits als Oppositionsführer seinen vielleicht ältesten und für Finanztransaktionen »genialen« Freund aus dem Gymnasium und dem Militärdienst, Lajos Simicska, als Dirigenten der Geldbeschaffung für den Fidesz beauftragt.
Der Schwenk nach rechts
Nur neun Monate nach der Absage an einen Schwenk nach links oder rechts bekannte sich Orbán am siebten Parteitag im April 1995 ohne Wenn und Aber zum Kurswechsel nach rechts: »Nach meiner Ansicht liegt die Blockbildung, die Entstehung eines sozialistischen Mitte-Links- und eines gemäßigten Mitte-Rechts-Kräftefeldes mit bürgerlicher Dominanz im Interesse des Landes … In der Mitte haben wir allein, gegen die Linke und die Rechte, keine Chance. In meinem Denken ist die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit der Linken nicht drin. Meine Antwort ist, dass Fidesz die Zusammenarbeit mit den Kräften rechts der Mitte suchen müsse.« Der neuen Linie entsprechend heißt nunmehr die Partei: Fidesz – Ungarische Bürgerliche Partei.
Die für viele überraschende Kehrtwendung spiegelte sich bald auch in der Sprache und im persönlichen Stil wider. Immer mehr früher salopp gekleidete, bärtige Rebellen waren »bürgerlich« angezogen und frisiert. In den Reden der Fidesz-Abgeordneten, allen voran natürlich in der Rhetorik des Parteivorsitzenden, standen neben aktuellen politischen und wirtschaftlichen Fragen immer häufiger die Bekenntnisse zur Nation, zum Ungartum, zur Heimat, zu nationalen Interessen, zur Anständigkeit, zum Bürgertum, zur Familie, zur Heimatliebe im Vordergrund. Es war ein gleitender und später beschleunigter Übergang zu den früher verpönten und karikierten konservativen Werten, zu einem Auftreten Schulter an Schulter mit den katholischen und protestantischen Kirchen und vor allem zum bewussten Ausspielen des Mythos der ungarischen Nation gegenüber den linken und liberalen politischen Rivalen.
Scharfe Kritiker von links behaupteten, die Fidesz-Leute seien prinzipienlose Chamäleons, stets bereit, ihren Mantel nach dem Winde zu drehen. Diese emotionalen Vorwürfe verfehlten ihr Ziel, weil sie die tieferen Beweggründe des zweifellos zielbewussten und meisterhaft vollzogenen Schwenks nach rechts übersahen. Nach der Abspaltung des schwachen und geschickt isolierten linken Flügels nutzte Orbán gegen den Linksblock seine einzige realistische Chance für einen künftigen Erfolg: die rechtskonservative, national-populistische Option. Im ersten frei gewählten Parlament war auch der Fidesz unvermeidlich die linke Opposition einer rechtsgerichteten Regierung gewesen. Nun war es, gegen das enorme Übergewicht einer sozialistisch-linksliberalen Regierung, natürlich umgekehrt. Deshalb konnte Orbán am 27. September 1994 im Parlament, unter dem Applaus der Kleinen Landwirte und der Christdemokraten, an die Adresse der linksliberalen Koalition spöttisch Willy Brandts berühmte Gleichung über die deutsche Wiedervereinigung zitieren: »Es wächst zusammen, was zusammengehört.«
Das Trauma von Trianon und andere Demütigungen
Bei der Erklärung des Wandels der Fidesz-Führung darf man die lange verborgen gebliebene Sprengkraft der nationalen Frage, also vor allem des Trianon-Traumas, nicht vergessen. Was Nietzsche »Feigheit vor der Realität« nannte, galt sowohl für das 40 Jahre lange Schweigen des kommunistischen Regimes über die nationale Tragödie wie auch für das Verdrängen der Auseinandersetzung mit dem von den Rechtsnationalisten hochgespielten Thema durch die postkommunistische Linke. Am 4. Juni 1920 wurde im Schloss Trianon im Park von Versailles jener Vertrag unterzeichnet, der zwei Drittel des Territoriums des historischen Ungarn und 40 Prozent seiner Bevölkerung unter den drei Nachbarstaaten Rumänien, Tschechoslowakei und Jugoslawien verteilte. 3,2 Millionen Ungarn gerieten unter Femdherrschaft. Dass Ungarn infolge des Kriegsbündnisses mit Hitler-Deutschland 40 Prozent der verlorenen Gebiete zurückgewann und sie dann nach dem Krieg wieder verlor, war Tabuthema unter dem Kádár-Regime. Selbst damals erklärten 70 Prozent der Befragten, der Friedensschluss von Trianon erfülle sie mit tiefer Verbitterung.
Das nationale Missgeschick durch das Verhängnis von Trianon, die Kriegsniederlage, das Schicksal der Auslandsungarn und die Psychose der nationalen Gefährdung gehören seit Generationen zur Tradition jener christlichen Mittelklasse, die nach dem Konzept der Fidesz-Führung die Kernschicht der künftigen großen, nationalen Volkspartei bilden sollte. Dieser historische Faktor hat vor allem auch auf dem Land die Menschen besonders stark geprägt.
Man muss beim persönlichen Handeln der Fidesz-Spitzenpolitiker aus der kleinen Gruppe der Gründungsväter bedenken, dass sie mit sehr wenigen Ausnahmen Intellektuelle der ersten Generation waren, aus ländlichen Familien stammten, wenn auch, laut den Analysen der besten Kenner, diese eher atheistisch eingestellt waren und die Mehrheit von ihnen nicht getauft wurde.
Auf der Flucht aus der Provinz in die Hauptstadt verbrachten sie die meiste Zeit eher untereinander in ihrem Bibó-Kollegium als an der Universität. In ihrem Verhältnis zu den Freien Demokraten (SzDSz) spielte nicht nur der Wille zur Unabhängigkeit eine wichtige Rolle. Bei der persönlichkeitsbezogenen Interpretation der politischen Aktionen sollten, wie schon erwähnt, auch die Unterschiede im sozialen Status und in der persönlichen Bildung zwischen manchen wichtigen Akteuren nicht übersehen werden. Wie von mehreren kenntnisreichen Beobachtern vermerkt, СКАЧАТЬ