Orbáns Ungarn. Paul Lendvai
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СКАЧАТЬ Viktor nicht nur das kleine Wunder des ersten Badezimmers in der Zweizimmerwohnung mit 54 Quadratmetern, sondern musste auch die Bewährungsprobe der Begegnung mit der urbanen Umgebung und mit den Mitschülern (31 Mädchen und nur 6 Burschen) bestehen, von denen viele bessergestellte Eltern hatten. In einem Interview behauptete Orbán später, dass es ihm nach einem halben Jahr mit Hilfe seiner Mutter, aber auch dank seines Selbstbewusstseins gelungen sei, in seiner Sprache und im Lebensstil die ländlichen Merkmale zu überwinden. Auch in der Mittelschule geriet der junge Heißporn übrigens in Konflikte und wurde sogar des Internats verwiesen. Zum Glück hatte sein Vater inzwischen eine Stelle und die erwähnte Wohnung in der Stadt bereits gefunden.

      Obwohl der umtriebige Gymnasiast in den ersten zwei Klassen sogar als Sekretär des kommunistischen Jugendverbandes (KISz) verschiedene gesellschaftliche und sportliche Events mit organisierte, hat Orbán nie versucht, sich rückwirkend zu einem jungen Kämpfer gegen das Regime hochzustilisieren. Im Gegenteil, er habe weder mit dem geliebten Großvater noch mit seinen Eltern über Politik gesprochen. Politik war kein Thema in der Familie, man las keine Zeitung, hörte keine politischen Nachrichten. Sie passten sich dem verglichen mit den anderen Ostblockländern milder und erträglicher gewordenen Kádár-Regime an. Mit den Worten Orbáns: »Es ist merkwürdig, aber es gibt keinen Grund in der Geschichte meiner Familie, der eine Erklärung geliefert hätte, warum ich Antikommunist geworden bin. Mein Vater war Parteimitglied. Die Familie wollte sich nicht in die Politik einmischen. Eine typische Reaktion auf die post-1956-Stimmung. Man sagte mir, lerne fleißig, arbeite und kümmere dich um deine Sachen. Denke nicht an die gesellschaftlichen Fragen und an die Außenwelt. Wir können diese sowieso nicht beeeinflussen.«

      In diesem Sinne passten sich die Orbáns dem kommunistischen Regime an, genau so wie die meisten Ungarn. Der Vater rückte in eine höhere Stellung in einem Steinbruch auf und konnte 1982 als Ingenieur sogar für ein Jahr in Libyen eine Stelle annehmen und durfte in einem zweiten Jahr seine Frau und den um 14 Jahre jüngeren, jüngsten Bruder Viktors zu sich holen. Orbán hat dann als Student seinen Vater in Libyen besucht.

       Leidenschaft Fußball

      Für den Gymnasiasten war indessen das Fußballspiel zur größten Leidenschaft seines Lebens geworden. Er durfte in der Jugendmannschaft eines Spitzenvereins aus der ersten Liga der Fußballmeisterschaft spielen. Viermal in der Woche ging er zum Training und verbrachte 90 Prozent seiner Freizeit auf dem grünen Rasen. Es seien damals die schönsten Jahre für ihn gewesen, obwohl er »kein besonderes Talent als Fußballspieler« aufwies und sich sehr anstrengen musste, um in den Kader der Jugendmannschaft aufgenommen zu werden.

      Wenn er auch um seine letztlich begrenzten Fähigkeiten auf diesem Feld wusste und sich als Mittelstürmer nicht überschätzte, pflegte er stets ein intensives, unverkrampftes und natürlich medienwirksames Verhältnis zum Fußball. In der Mittelschule verstand er, dass man im Fußball auch aufsteigen kann, wenn man von unten kommt. Der Fußball bietet auch gesellschaftlich eine Möglichkeit, Grenzen zu verschieben, Chancen zu testen und als Gleicher unter Gleichen die Kräfte zu messen. »Wir führten im Gymnasium ein viel zu einförmiges Leben. Das war in der Fußballmannschaft anders; da gab es die unterschiedlichsten Menschen: reich, arm, dumm, gescheit. Gleichzeitig bildete sie eine sehr gute Gemeinschaft von Freunden. Das Spiel brachte Menschen aus den verschiedensten Schichten zusammen. Wann immer ich eine Mannschaft wechselte, wechselte ich auch die Kulturen.«

      Unter den Freunden in der Mittelschule war für Viktor mit Abstand der um drei Jahre ältere Lajos Simicska der wichtigste. Dieser kam von ganz unten. Kaum ein anderer Schüler hat so früh so tief geblickt wie er. Seine Familie war so arm, erzählt Simicska, dass er Kohle stehlen musste, um die Familie vor dem Erfrieren zu retten. Sein Vater, ein Metallarbeiter, sei wegen seiner Rolle als Sekretär des betrieblichen Arbeiterrates während des 1956er-Aufstandes nachher moralisch und physisch zugrunde gerichtet gewesen. Der offen antikommunistisch eingestellte Simicska wurde wegen seines rebellischen Auftretens einmal aus seiner Klasse hinausgeworfen; deshalb war er nun um zwei Klassen über Viktor und seinen Altersgenossen. Sie alle hatten Simicska als Sturmbock bewundert. Laut Orbán habe Simicska über ein »fantastisches Gehirn verfügt; er ist der Klügste von uns allen« gewesen. Er trat nur deshalb dem Kommunistischen Jugendverband bei, um die Aufnahme an die Universität zu schaffen. Schließlich hat Simicska gleichzeitig mit dem Jahrgang Orbáns und seiner Freunde das Universitätsstudium an der Rechtsfakultät angefangen und auch abgeschlossen.

       Freunde fürs Leben

      Sie waren auch zusammen Soldaten. Die an der Universität aufgenommenen Maturanten mussten nämlich zuerst für fast ein Jahr ihren Militärdienst absolvieren. Für die künftigen Studenten war der Militärdienst eine besonders harte Prüfung, weil sie von den anderen Rekruten und vor allem von den Unteroffizieren und Offizieren als »Privilegierte« betrachtet und auch gequält wurden. Für Viktor Orbán waren diese Monate vor allem wegen der Beschränkung seiner persönlichen Bewegungsfreiheit kaum erträglich, weil er dadurch immer Gefahr lief, wichtige Spiele während der Fußballweltmeisterschaft zu verpassen. Wegen unerlaubten Ausgangs oder Fernbleibens vom Dienst wurde er mehrmals zu je drei Tagen Kerker verurteilt. Einmal musste der aufsässige Orbán sogar für zehn Tage hinter Gitter, weil er einen Gefreiten im Zuge einer persönlichen Auseinandersetzung geohrfeigt hatte.

      Obwohl er sich damals politisch noch nicht engagierte, bedeutete diese Zeit doch emotional eine Wende in seinem Leben, da er zum ersten Mal hautnah mit der Brutalität der militärischen Maschinerie und zugleich mit der Primitivität der Indoktrinierung zur Rechtfertigung des Systems konfrontiert wurde. Diese Erfahrungen bereiteten den Boden für die spätere politische Aktivität und für die Wandlung zu einem bewussten Gegner der Parteidiktatur. In diese Zeit fiel auch der Versuch des überall und erst recht in der Armee besonders aktiven Geheimdienstes, Viktor Orbán als Informanten zu gewinnen. Er hat zwar abgelehnt, doch seinen Freunden davon nichts gesagt. Erst nach einer diesbezüglichen Pressemeldung im Juni 2005 hat Orbán das Dokument aus dem Archiv des Staatssicherheitsdienstes veröffentlicht, wonach »der Versuch erfolglos« gewesen sei.

      Sein Freund Simicska galt auch während des Militärdienstes wegen seiner kritischen Haltung zu den sowjetischen Versuchen, die gewerkschaftliche Opposition in Polen zu unterdrücken, als schwarzes Schaf. Eine ganze Reihe von späteren Fidesz-Politikern, so auch seine engsten Freunde in der Studentenzeit, wie Gábor Fodor und László Kövér, haben in der Armee ähnliche Erfahrungen wie Orbán gemacht. Der aus einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie stammende und fast vier Jahre ältere Kövér, der stets zu übertriebenen Formulierungen neigt, hat einmal in einem Rückblick auf seine Soldatenzeit die Armee sogar als »Mini-Auschwitz« bezeichnet!

      Die am Anfang dieses Kapitels erwähnte Gruppenbildung fiel zeitlich mit der politischen Aktivität in der Studentenvertretung an der Rechtsfakultät und vor allem mit der Einrichtung des Bibó-Kollegiums7 für Jusstudenten 1983 zusammen. Nicht an der Universität, sondern in diesem Kollegium entstand ein Netzwerk von persönlichen und politischen Freundschaften, das direkt und indirekt nicht nur die Karriere der einzelnen Figuren, sondern durch ihren späteren Aufstieg die ganze politische Landschaft des postkommunistischen Ungarn geprägt hat. Dass Orbán zuerst mit Simicska und dann fast zwei Jahre mit Gábor Fodor das Zimmer im Kollegium in der Ménesi-Straße 12 in Buda geteilt hat, bedeutete eine intime Kenntnis voneinander, die die persönlichen Reaktionen im Wechselspiel von Zusammenarbeit, Rivalität und Feindschaft der folgenden Jahrzehnte immer wieder mitbestimmt hat. Auch heute wohnen dort zu zweit oder zu dritt in den nur etwa zwölf Quadratmeter großen Zimmern 60 Studenten und Studentinnen, die monatlich rund 12.000 Forint (etwa 40 Euro) für die Benützung der Zimmer zahlen müssen.

      Dass diese Insel der Autonomie und Selbstbestimmung in den Achtzigerjahren existieren, ja sogar blühen konnte, verdankten die Studenten vor allem drei Faktoren: den allgemeinen Reformen und Lockerungen in der Spätphase des Kádár-Regimes, der Tatsache, dass der Direktor СКАЧАТЬ