Название: Orbáns Ungarn
Автор: Paul Lendvai
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
isbn: 9783218010481
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Im ersten Viertel des Wahljahres 2002 betrug die Wachstumsrate der realen Verdienste das Dreifache der Steigerungsrate des BIP. Die Industrieproduktion stagnierte, das Defizit der laufenden Zahlungsbilanz und die Wachstumsrate des Kleinhandelsumsatzes verdoppelten sich. Abgesehen von der Erhöhung des privaten Konsums um 9 Prozent zeigten alle wirtschaftlichen Indikatoren eine Verschlechterung der Lage. Der Grundstein für die spätere und noch gefährlichere Wirtschaftskrise – für welche in erster Linie die folgenden sozial-liberalen Regierungen verantwortlich waren – wurde also schon in der letzten Phase der Regierung Orbán gelegt.
Die Gründe für die Niederlage
In den von der Rechten kontrollierten Tages- und Wochenzeitungen und sogar in einer der meistgehörten Sendungen des öffentlich-rechtlichen Hörfunks wurde die Verharmlosung, Verteidigung und Verherrlichung des früheren Horthy-Regimes emsig betrieben. Die internationalen Medien und auch die nichtstaatlichen Bürgerrechtsgruppen berichteten immer häufiger von antisemitischen und romafeindlichen Entgleisungen. Die kalkulierten Tabubrüche, die keineswegs nur auf die Publikationen der Csurka-Partei (MIÉP) beschränkt waren und breite Schichten der studentischen Jugend beeinflussten, fanden einen starken negativen Widerhall auch in den USA und in den Publikationen jüdischer Organisationen im Ausland. Die Tatsache, dass sich Ministerpräsident Orbán nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten nicht sofort und entschlossen von einer empörenden antisemitischen und antiamerikanischen Bemerkung Csurkas distanziert hatte, war laut Presseberichten der Grund, warum Präsident Bush nicht bereit war, Orbán zu empfangen, als dieser im Februar 2002 zur Übernahme der Urkunde eines Ehrendoktorats der Universität Boston in den Vereinigten Staaten weilte.
Die Sprüche der zündelnden Fidesz-Politiker über die Rechte und Autonomiewünsche der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern gewannen zwar die begeisterte Zustimmung der meisten Minderheitenvertreter, lieferten jedoch zugleich den dortigen nationalistischen Kräften politische Munition. Dass die Sozialisten ebenso bereit waren, bei günstiger Gelegenheit auf dem Rücken der Minderheiten populistische Schlagworte zu benutzen, zeigt die demagogische Ausnützung einer missverständlichen Formulierung in der Vereinbarung, die Orbán mit dem rumänischen Ministerpräsidenten Adrian Năstase Ende 2001 unterschrieben hatte. Danach hätte man in Ungarn jedem rumänischen Staatsbürger, also nicht nur den dort lebenden Ungarn, eine Arbeitsbewilligung für drei Monate sowie eine Sozialversicherung gewährt. Obwohl klar war, dass dafür maximal 81.000 Menschen infrage gekommen wären, hatten die Sozialisten eine massive Einschüchterungskampagne unter der Devise »23 Millionen Rumänen vor den Toren« lanciert.
Dass der bis zuletzt äußerst populäre Ministerpräsident die Wahlen trotz der Ankurbelung des Konsums und der fragwürdigen Lohnerhöhungen letzten Endes überraschend verlor, war laut seinem Biografen Debreczeni die Konsequenz von zwei Faktoren: erstens die Vereinigung des rechten Lagers mit allen nur möglichen Mitteln – dazu gehöre die fehlende klare Distanzierung von dem mit Csurka identifizierten extrem rechten Rand um die MIÉP-Partei. Der zweite Grund sei die zu aggressive Taktik der Konfrontation gewesen, vermischt auch mit unbewiesenen, lautstarken Korruptionsvorwürfen gegen die frühere Regierung. Zwar waren innerhalb der Sozialistischen Partei MSzP die Spaltungstendenzen offensichtlich, doch gelang es dem eleganten und gemäßigten Listenführer, also dem Kandidaten für den Posten des Ministerpräsidenten Péter Medgyessy, besser, die schwankenden oder unsicheren Wähler zu gewinnen, als dem aggressive Sprüche klopfenden Orbán.
Bei der höchsten Wahlbeteiligung seit der Wende mit 72 Prozent konnte das linksliberale Lager einen knappen Sieg erringen, nicht zuletzt deshalb, weil die Liberalen (SzDSz) die Fünf-Prozent-Hürde übersprangen. Das Resultat – 188 Mandate für den Fidesz, 178 für die MSzP und 20 für den SzDSz – war zweifellos ein gewaltiger Schock für Orbán und seine Mannschaft. Ich selbst habe diese Tage der Spannung, die Ausbrüche der Verzweiflung und die Drohungen wegen eines angeblichen Wahlschwindels in Budapest und als Teilnehmer bei Fernsehdiskussionen erlebt. Von Rachsucht getrieben, forderten Orbáns publizistische Einpeitscher Vergeltung für den »gestohlenen Sieg«. In seinem letzten großen Interview zum Abschluss der ersten Orbán-Biografie (am 4. Mai 2002) mit József Debreczeni wies Orbán nach der Wahlniederlage den Vorwurf der übertriebenen Konfrontation brüsk zurück. Im Gegenteil, er sei nicht hinreichend geschickt bei der Konfrontation und überhaupt nicht hart genug bei der Führung der Regierung gewesen. Man hätte sich durch die Schaffung von neuen Zeitungen und elektronischen Medien mehr Informationskanäle beschaffen sollen. Seine Kernaussage lautete: Nicht die Regierungspolitik sei falsch gewesen, sondern die Kommunikation der Absichten und Entscheidungen sei »nicht effizient genug, subtil genug und differenziert genug« gewesen.
Orbáns Hinwendung zum Glauben
Dieses merkwürdige Interview lässt auch rückblickend erkennen, dass der Schock der Niederlage den 39-jährigen Verlierer nicht nur nicht entmutigt, sondern im Gegenteil mit neuem Tatendrang erfüllt hat. In diesem Zusammenhang muss man auch eine erst ein Jahrzehnt später bekannt gewordene Episode aus der Zeit der 2002 verlorenen Wahl erzählen. In der von der Fidesz-Führung wohlwollend unterstützten und von der umstrittenen Historikerin und früheren Chefberaterin des Ministerpräsidenten Mária Schmidt lektorierten Orbán-Biografie beschreibt der polnische Journalist Igor Janke die folgende Szene, die sich im VIP-Raum des Millenáris-Parks in Buda abgespielt hat:16
Am späten Abend des 7. April 2002, nach der Veröffentlichung der Resultate des ersten Wahlganges, als sich die völlig unerwartete Niederlage des Fidesz schon abzeichnete, waren nur die tief erschütterten altgedienten Kampfgefährten anwesend. Da sagte Orbán: »Lasset uns beten.« Und die einstigen antiklerikalen Rebellen, die sich noch 1992/1993 im Parlament über die »Pfaffen« mokiert hatten, gegen die Einführung des Religionsunterrichts in den Schulen und die Rückerstattung des Kirchenvermögens protestiert hatten, beteten nun alle gemeinsam.
Die politischen Gegner haben auf die Reden und die Geschichten über die öffentliche Wandlung des jungen Politikers zu einem tiefgläubigen Menschen in den späten Neunzigerjahren mit Spott reagiert. Über seinen langen Weg zum Glauben hat sowohl Orbán selbst als auch der calvinistische Pastor Zoltán Balog, der ihn (abgesehen von seiner Frau, Anikó Lévai, einer gläubigen Katholikin) am stärksten beeinflusst hat, mehrmals in Reden und Interviews gesprochen. »Ich habe keinerlei religiöse Erziehung gehabt … Ich bin in einer ungläubigen Umgebung aufgewachsen«, bekannte Orbán. Er war zwar getauft worden, aber von einer Konfirmation – das Zeichen der christlichen Reife und des persönlichen Bekenntnisses zum Glauben – konnte keine Rede sein. Er wollte auch keine kirchliche Ehe mit Anikó, sie hatten 1986, beide Studenten, standesamtlich geheiratet.
Mit der sich abzeichnenden Abkehr vom Liberalismus und der Zuwendung zu den nationalkonservativen Ideen wurden die Kontakte und Begegnungen mit kirchlichen Würdenträgern intensiviert. Balog wurde zum wichtigsten Kontaktmann zu den katholischen und protestantischen Kirchen. Bereits bei den politischen Versammlungen zur Präsidentenwahl und bei der Deklaration für ein bürgerliches Ungarn saßen die Bischöfe in der ersten Reihe. Balog erzählte dem polnischen Orbán-Biografen Igor Janke, dass der Fidesz-Politiker nach einer Begegnung mit dem Erzbischof von Eger und Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz 1992 Folgendes zu ihm gesagt habe: СКАЧАТЬ