Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke. Heinrich Zschokke
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Название: Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke

Автор: Heinrich Zschokke

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9788027214945

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СКАЧАТЬ unmittelbar schöpfen, sondern sie im Vertrauen auf des Lehrers Weisheit empfangen. Und so wie dann, so steht es jetzt. Das Volk hängt mit Glauben an dem, der ihm ein Geweihter höherer Erkenntnis ist; mit dem Glauben, welchen das Kind zu seinen Eltern, der Kranke zu seinem Arzt bringt. Alte Vorurteile werden untergehen, aber neue emporsteigen und die Welt beherrschen. Die Menschen werden kunstvoller, gebildeter, menschlicher werden. Sie werden einst schaudern vor den Zeiten der Barbarei, in welcher wir heute leben – und dennoch aus dem Stande der Unmündigkeit nie ganz hervorschreiten können.«

      »Ich zweifle,« sprach ich, »daß die Menschheit, indem sie sich ausbildet, und eines höhern Grades der Einsicht, des Zartgefühls sich freut, zugleich des Elends weniger sehen sollte.«

      »Warum nicht? O wahrlich, mein Herr, unter einem veredelten Volk würde ich nie die schönere Hälfte meiner Tage im Kerker und in Fesseln verschmachtet haben! Können Sie nicht glauben, daß mit der Gesittung der Völker die öffentliche Glückseligkeit steigt und das Elend sinkt – so vergleichen Sie einen Augenblick lang die gebildeten Nationen unserer Zeit mit den rohen Horden, die noch auf der untersten Stufe der Kultur stehen; teilen Sie einen Augenblick mit diesen die Angst des Aberglaubens. die Ungezähmtheit brünstiger Leidenschaften, die Unmenschlichkeit ihrer Kriege, die Grausamkeit ihrer unbeholfenen Rechtspflege, die bittern Früchte der Unwissenheit in jeglicher Lebenslage . . . vergleichen Sie den wohlhabenden Europäer unsers Jahrhunderts mit dem wohlhabenden Mann des wilden Mittelalters! . . . Die Entwickelung der mannigfaltigen Anlagen der menschlichen Natur vergrößert den Genuß und die Freuden des Lebens; die Zerstörung schädlicher Vorurteile, die fortdauernden Eroberungen im Gebiet der Wissenschaft vermindern die Zahl der Übel, und geben der Seele allmählich eine Größe und Kraft, mit welcher sie sich über die unabänderlichen Übel emporhebt.«

      So redete Alamontade. Ich hörte ihn mit Vergnügen an; meine Gedanken wirkten nur dahin, ihm neue Gedanken zu entlocken.

      4.

       Inhaltsverzeichnis

      Als ich eines Nachmittags zu Alamontade kam, fand ich ihn im Bette. Eine ungewöhnliche Heiterkeit überstrahlte sein Antlitz; er lächelte mich an, nie hatte ich ihn lächelnd gesehen.

      »Du scheinst Dich heute wohl zu befinden?« sagte ich zu ihm. – »O sehr wohl! Schon erstreckt sich die Geschwulst meiner Füße gegen die Hüften, und der Arzt schüttelte bedenklich sein Haupt. Er kann also doch dem Feinde nicht länger widerstehen, welchen er Tod nennt, und den ich Leben heiße.«

      »Stirbst Du denn gern, Alamontade?«

      Er sah mich bei dieser Frage mit einer unbeschreiblichen Heiterkeit an; in seinen Blicken spiegelte sich das verschlossene Feuer seines Herzens. »Wie?« sprach er. »Wenn der freundliche Augenblick erscheint, welcher mir die schweren Eisenketten von den müden Beinen nimmt und mich aus der dumpfen Kerkerkammer und traurigen Fremde in die geliebte Heimat zurückführt, soll ich da zittern? Wer liebt auf Erden noch den vergessenen Alamontade? Kein Auge wird mitleidig über seinem Leichnam Thränen vergießen. Ich hinterlasse nichts Geliebtes, welches mir die Rückkehr zum väterlichen Hause erschweren könnte.«

      »Und Dein väterliches Haus? Wo ist das, Alamontade?«

      »Es ist da, wo ich wieder bei den Meinigen sein werde; wo ich wieder in der großen Familie des Allvaters als Kind auftrete, nicht als Stiefkind, und wo ich allen gleichgeschaffenen Wesen gleich gelte. Der Erdball gehört auch zum Gebiete des Ewigen; aber ich ward hier ins Elend hinabgeschleudert, und keiner kannte mich, keine Seele begrüßte mich als Bruderseele.«

      »Weißt Du es denn, Alamontade, weißt Du es gewiß, daß Dich nach der Todesstunde noch Stunden des Lebens erwarten? Kannst Du mit unerschütterter Überzeugung Dein Auge schließen? Du bist es gewesen, der mir selbst bekannte, daß keine geoffenbarte Religion Dich erquicke, wie kannst Du, ohne höhere Offenbarung, Dein Loos nach dem Tode wissen? . . . Doch ich will Deine innere Ruhe nicht mit Zweifeln unterbrechen.«

      »Wahrlich,« antwortete Alamontade, »diese Ruhe stört kein Zweifel. Ich selbst stehe da, wo diejenigen standen, welche dem kindlichen Menschengeschlecht Offenbarung gaben, ohne sie empfangen zu haben. Der Mensch in seiner Vollendung bedarf keiner übernatürlichen Erscheinung, um sich im heimatlichen Weltall heimatlich zu fühlen. Nur der Blinde muß durch fremde Hand geleitet werden; ihm bleibt die Straße dunkel, auch wenn ihm tausend Sonnen leuchten.«

      »Wann aber ist der Mensch in seiner Vollendung?« frug ich.

      »Sobald er seine gesamten Anlagen ebenmäßig ausgebildet hat, recht sie zu würdigen und zu verwenden weiß,« erwarte Alamontade; »wer mit den Händen wandern, mit den Füßen handeln will, wird ein Thor gescholten, und mit Recht. So ist auch der ein Thor, welcher mit der Einbildungskraft die Ewigkeit umfassen will; oder wer die Gefühle zu Sittengesetzen macht; oder wer das Gewesene läugnet, was seinem Gedächtnisse entronnen ist; oder an keine Zukunft glaubt, weil sie noch nicht gewesen ist; oder einen Gott bezweifelt, für dessen Dasein so viel, oder so wenig Beweise sind, als für das Dasein unseres Ich . . . Stark ist der Mensch und groß und einem Gott gleich in seinem Lebenskreise. Aber die falsche Richtung, die irrige Anwendung seiner Kraft macht ihn gebrechlich. Er will mit den Augen zuweilen hören, mit den Ohren sehen. Das kann er nicht. Dann weint er über das Elend des menschlichen Wesens, und klagt die Welt und ihren Urheber an; ihm mangelt überall Wahrheit, und doch ist er selber daran Schuld.«

      Ich fühlte mich von dieser Rede getroffen. Ich entdeckte mich dem weisen Manne ohne Hinterhalt, verriet ihm meine Krankheit, diese fürchterliche Zweifelsucht, welche all meinen Frieden zerstörte.

      »An allem zweifeln Sie,« sprach er lächelnd, »also auch daran, daß Sie zweifeln? Sie finden nirgends in der Welt Gewißheit, also auch darin nicht, daß Sie es sind, der keine Gewißheit findet?«

      »Nein,« rief ich, »daß ich da bin, kann ich nicht läugnen, ohne Wahnsinn; daß ohne mich noch andere Dinge sind, ist auch gewiß. Aber was diese sind, warum ich bin – das weiß ich nicht.«

      »Woher wissen Sie, daß Sie sind? Wer hat es Ihnen geoffenbart?«

      »Ich empfinde, ich denke, und daraus schließe ich, daß etwas empfindet und denkt, und dies Etwas ist mein Ich. Es wirket etwas auf mich ein, unabhängig von der Willkür meiner Vorstellungen; ich habe demnach keinen Grund, am Vorhandensein anderer Dinge zu zweifeln. Aber die Dinge kenne ich nicht, sondern nur ihre Wirkungen auf meine Sinne. Ich ergründe nun aber wieder den Zusammenhang meiner Seele mit der Außenwelt nicht. Ich finde, je länger ich die Natur studiere, daß die von den Außendingen in mir erzeugten Wirkungen mich gar nicht berechtigen dürfen, auf ihre Beschaffenheit zu schließen, sondern daß die Beschaffenheit der Wirkungen eine Folge meiner unbegreiflichen Einrichtung sei.«

      »Ach, mein Herr,« sagte Alamontade, »wenn es dem Menschen nicht um höhere und schönere Geheimnisse zu thun wäre: die Kenntnis der ihn umgebenden Dinge würde ihn sehr wenig beschäftigen. Aber mit Vergnügen will ich Ihren Gedanken folgen. Das, was durch das ganze Leben meinen einsamen Stunden Unterhaltung gewährte, soll mir auch die letzten Wochen, Tage oder Stunden meines Hierseins versüßen. Ich gestehe mit Ihnen, daß auch mir die Ursachen der Dinge, die ich Welt nenne, ein geheimnisvolles Dunkel verhüllt; daß ich eigentlich nur in einer Vorstellungswelt lebe, die alles nach den Gesetzen meines Geistes gestaltet. Aber auch in dieser muß ich, nach eben den Gesetzen, das wirkende Etwas von der Wirkung unterscheiden. Ich sehe also das Weltall in zwei Teile zerfallen: eine Welt voller Erscheinungen, oder der Wirkungen auf mich, und diese ist's, die ich allein kenne – eine andere Welt voll wirkender, an sich unbekannter Ursachen, die ich aus den Wirkungen erkenne; zu diesen gehört mein Ich, oder, wenn Sie wollen, СКАЧАТЬ