– Nikolai!
– Machen Sie sich keine Sorge, werther Dimitri Nikolaitsch! Er hat Niemand hier angeführt. Er machte die Miene als wollte er nicht mehr disputiren . . . Er fühlt, daß er es mit Ihnen nicht kann. Sehen Sie sich aber näher zu uns, und lassen Sie uns plaudern.
Rudin rückte seinen Sessel näher.
–– Wie kommt es, daß wir nicht früher bekannt geworden sind? fuhr Tarja Michailowna fort. Das ist mir ein Räthsel . . . Haben Sie dies Buch gelesen? C’est de Tocquoville, vous savez?
Und Darja Michailowna schob Rudin eine französische Broschüre hin.
Rudin nahm das dünne Büchlein in die Hand, blätterte ein wenig darin und erklärte, nachdem er es wieder auf den Tisch zurückgelegt hatte, er habe diese Schrift des Herrn Tocquoville zwar nicht gelesen, doch häufig über die von ihm berührte Frage nachgedacht. Das Gespräch war angeknüpft Rudin zeigte sich anfangs etwas befangen, er zögerte, mit seiner Meinung hervorzutreten, fand nicht immer sogleich die Ausdrücke, wurde jedoch allmählich warm und beredt. Eine Viertelstunde später vernahm man nur seine Stimme im Zimmer. Alle hatten einen Kreis um ihn geschlossen.
Pigassow allein blieb entfernt, in einer Ecke neben dem Kamin Rudin sprach klug, mit Geist und Feuer, und zeigte viele Kenntnisse und große Belesenheit. Niemand hatte erwartet, in ihm einen bedeutenden Menschen zu treffen . . . Er war so alltäglich gekleidet, man hatte bisher so wenig von ihm gehört. Allen blieb es unbegreiflich und auffallend, wie ein so geistreicher Mann so unverhofft auf dem Lande hatte auftauchen können. Um so mehr erregte er bei Allen Bewunderung, man könnte sagen, er bezauberte Jeden, vor Allen Darja Michailowna . . . Sie war stolz auf ihren Fang, und dachte schon zum Voraus daran, wie sie Rudin in die Welt führen wolle. Trotz ihres Alters mischte sich bei ihr in die ersten Eindrücke viel jugendliches, ja beinahe kindisches Feuer. Alexandra Pawlowna hatte, offen gestanden, wenig von Allem begriffen, was Rudin gesprochen, war aber dennoch sehr erstaunt und erfreut; ihr Bruder war es nicht weniger; Pandalewski beobachtete Darja Michailowna und wurde neidisch; Pigassow dachte: »wollte ich fünfhundert Rubel wegwerfen – ich könnte mir eine bessere Nachtigall verschaffen « . . .
Mehr als alle Uebrigen waren jedoch Bassistow und Natalia erstaunt. Bassistow war der Athem fast ausgegangen; er war die ganze Zeit über mit offenem Munde und weit geöffneten Augen sitzen geblieben und hatte mit einer Spannung zugehört, wie bisher noch niemals; Natalia’s Gesicht war roth geworden und ihr Blick, den sie unverwandt auf Rudin geheftet gehalten hatte, wurde dunkler und glänzender zugleich . . .
– Was für prachtvolle Augen er hat, flüsterte ihr Wolinzow zu.
– Ja, sie sind schön.
– Schade nur, daß seine Hände so groß und roth sind.
Natalia antwortete nichts.
Man brachte den Thee. Die Unterhaltung wurde allgemeiner, doch ließ sich an dem plötzlichen Verstummen Aller, sobald Rudin den Mund aufthat, gleich merken, wie überwältigend der Eindruck war, den er hervorgebracht hatte. Es kam Darja Michailowna in den Sinn, Pigassow ein wenig aufzuziehen. Sie trat zu ihm und fragte ihn halblaut: »Warum schweigen Sie denn und zeigen uns nur ein höhnisches Lächeln? Versuchen Sie es doch, mit ihm wieder anzubinden,« und ohne feine Antwort abzuwarten, winkte sie Rudin zu sich.
– Sie kennen noch eine seiner Seiten nicht, sagte sie zu ihm, auf Pigassow deutend: – ein erschrecklicher Weiberfeind, fortwährend greift er sie an; ich bitte, bekehren Sie ihn doch.
Rudin blickte Pigassow unwillkührlich . . . von Oben herab an: er war um zwei Kopflängen höher als er. Dieser krümmte sich fast vor Aerger, sein gelbes Gesicht wurde noch gelber.
– Darja Michailowna hat nicht ganz Recht, begann er mit unsicherer Stimme: – ich greife nicht ausschließlich die Weiber au; das ganze Menschengeschlecht behagt mir nicht sehr.
– Was konnte Ihnen denn eine so schlechte Meinung von demselben einflößen? fragte Rudin.
Pigassow schaute ihm gerade in’s Gesicht.
– Vermuthlich meine Studien des eigenen Herzens, in welchem ich mit jedem Tage mehr und mehr Schlacken entdecke. Ich urtheile über Andere nach mir selbst. Das mag vielleicht ungerecht sein, und ich tauge viel weniger als Andere; was wollen Sie aber? Gewohnheit!
– Ich verstehe Sie und sympathisire mit Ihnen, erwiederte Rudin. Welche edle Seele hätte nicht Anwandlungen von Selbstunterschätzung gehabt! Man sollte aber doch aus dieser schlimmen Lage herauszukommen trachten.
– Danke recht sehr für die Adelsbescheinigung, die Sie meiner Seele ausstellen, erwiederte Pigassow: – mit meiner Lage hält sich’s noch – sie ist so übel nicht, und wenn es auch einen Ausgang aus ihr giebt, er mag bleiben, suchen will ich ihn nicht.
– Das hieße aber, verzeihen Sie den Ausdruck – die Befriedigung seiner Eigenliebe, dem Verlangen, in der Wahrheit zu verbleiben, vorziehen . . .
– Und was denn Anderes! rief Pigassow: – die Eigenliebe – das Ding verstehe ich, verstehen Sie, versteht ein Jeder; aber Wahrheit – was ist Wahrheit? Wo ist sie, diese Wahrheit?
– Sie verfallen in Wiederholungen, ich muß Ihnen diese Bemerkung machen, warf Darja Michailowna ein.
Pigassow zuckte die Achseln.
– Und was liegt daran? Ich frage: wo ist Wahrheit? Die Philosophen selbst wissen nicht, was sie ist. So sagt Kant: Das ist sie; Hegel aber – nein bewahre! Dies ist sie.
– Und wissen Sie, was Hegel darüber sagt? fragte Rudin. ohne die Stimme zu erheben.
– Ich wiederhole, eiferte Pigassow: – ich kann nicht begreifen, was Wahrheit ist. Meiner Ansicht nach giebt es eine solche nicht auf der Welt, das heißt, das Wort ist da, die Sache selbst aber existirt nicht.
– Ei! Ei! rief Darja Michailowna: – schämen Sie sich doch so zu sprechen, Sie alter Sünder! Es gäbe keine Wahrheit? Wozu nützte es denn auf der Welt zu leben?
– Und wissen Sie, Darja Michailowna, erwiederte ärgerlich Pigassow: – ich bin der Meinung, daß Sie, auf jeden Fall, das Leben ohne Wahrheit leichter finden würden, als ohne Ihren Koch Stephan, der so vortreffliche Bouillons kocht! Und wozu brauchten Sie überhaupt die Wahrheit, wenn ich fragen darf? ein Häubchen ließe sich doch nicht daraus machen!
– Spaßen ist nicht beweisen, bemerkte Darja Michailowna: – besonders wenn es in Verleumdung ausartet.
– Ich weiß nicht, wie es mit der Wahrheit bestellt ist, aber sie zu hören ist freilich Vielen schmerzlich, brummte Pigassow und zog sich mürrisch zurück.
Rudin jedoch begann von dein Selbstgefühl zu reden und sprach sehr verständig. Er bewies, daß der Mensch ohne Selbstgefühl nichts bedeute, daß Selbstgefühl »Archimedes’s Hebel« sei, durch welchen der Erdball aus seiner Stellung gehoben werden könne; doch verdiene in der That nur Derjenige »Mensch« genannt zu werden, der sein Selbstgefühl zu bändigen wisse, wie der Reiter sein Roß, der seine Persönlichkeit dem Wohle Alter zum Opfer bringe . . .
– Selbstsucht, so beschloß er seine Rede: – ist Selbstmord. Der selbstsüchtige Mensch verdorrt gleich einem vereinzelten, unfruchtbaren Baume; Selbstgefühl aber, als lebendiges Streben nach Vervollkommnung, ist der Ursprung alles Großen . . . Ja! es muß der Mensch den СКАЧАТЬ