Название: Reichsgräfin Gisela
Автор: Eugenie Marlitt
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754187548
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Der Pfarrer ehrte Juttas »tiefe, wortlose Trauer«, er begegnete ihr um derentwillen mit erhöhter Achtung und Rücksicht; der Blick einer Frau und Mutter dagegen ist schärfer – die Pfarrerin sah oft verstohlen und prüfend von ihrem Teller auf –, das war nicht Seelenschmerz, was dem Gesicht dort das Gepräge vornehmer Unnahbarkeit aufdrückte und den Blick der jungen Dame eisig kalt und teilnahmslos über die doch gewiß unwiderstehliche Lieblichkeit der kleinen, blonden Lieblinge hingleiten ließ; die »stille, wortlose Trauer« flieht auch bang und scheu jedes lautere Geräusch – Jutta aber hatte bereits ihre Klavierübungen wieder aufgenommen und »raste« oft stundenlang über die Tasten. Indes, der echte, brave Frauencharakter sucht stets nach einem Entschuldigungsgrund für mißfällige Wahrnehmungen am eigenen Geschlecht, und demgemäß folgerte die Pfarrerin, Jutta sei verzeihlicherweise verstimmt, weil sie den Bräutigam fast gar nicht sehen durfte. Der junge Bertold schwebte noch zwischen Leben und Tod, und wenn auch Sievert die Pflege mit übernommen hatte und Tag und Nacht nicht aus dem Hüttenhause wich, so hielt doch die Besorgnis, den Ansteckungsstoff weiter zu tragen, den Hüttenmeister von häufigen Besuchen in der Pfarre zurück – er war bis jetzt nur einmal gekommen, allein erst, nachdem er in der Gießerei den Anzug gewechselt hatte und stundenlang im Freien umhergelaufen war.
Dagegen suchte Frau von Herbeck in Begleitung des gräflichen Kindes fast täglich die Trauernde in der Eckstube auf. Im unteren Stockwerk kehrte sie nie ein, aber sie erlaubte der kleinen Gisela, wenn auch nur für Augenblicke, hier und da in die Kinderstube zu gehen, während sie in unermüdlicher Plauderei bis zur einbrechenden Nacht bei Jutta saß.
Nun war der Heilige Abend da. Die harten, unvermischten Farbentöne, die den klaren Wintertag charakterisieren, rannen allmählich in das matte Grau der Dämmerung zusammen. Es war sehr kalt; der lebendige Atem wurde zur Dampfsäule in der strengen Luft, und der hartgefrorene Schnee krachte unter den Wagenrädern und Menschentritten. Trotzdem war Frau von Herbeck mit der kleinen Gräfin in die Pfarre gekommen – Gisela wollte den Christbaum brennen sehen; der ihrige sollte erst am morgenden Feiertag angezündet werden.
Im kleinen eisernen Ofen des Eckstübchens trommelte und brauste ein wohlunterhaltenes Feuer. Einige Körner feinen Rauchpulvers lösten sich auf der heißen Platte, und ihre Dunstwölkchen mischten sich mit dem starken Aroma, das aus der auf dem Sofatisch stehenden kleinen Kaffeemaschine strömte. Noch brannte kein Licht. Die dichten Kattunvorhänge ließen den letzten ungewissen Schein des vergehenden Tages nur als schmalen, bleichen Streifen auf die Dielen fallen, während an den Wänden hin tiefe Schatten huschten. Aber aus dem Zugloch und der schlechtverschlossenen Tür des Ofens floß ein intensiver Glutschein und hauchte rötliche Tinten auf das elegante Klavier und das weiße Atlasgewand des darüber hängenden mütterlichen Bildes. Ein fraulicherer Raum als diese in Winterluft und Abendschatten hineinragende Ecke ließ sich wohl nicht denken.
Die kleine Gisela kniete auf einem Stuhl am Fenster. Sie konnte noch nicht in die Kinderstube, weil die Kleinen gebadet wurden. Einstweilen begnügte sie sich, einen hungrigen Raben zu beobachten, der auf einem nahen Birnbaum umherhüpfte und mit seinen schwarzen, hängenden Flügeln ganze Schneeladungen von den Ästen stieß. Auf dem kleinen, unschönen Gesicht lag jedoch keineswegs jenes oberflächliche Interesse, mit dem das gewöhnliche Kinderauge lediglich der raschen Beweglichkeit eines Vogels folgt. Dieser junge Kopf verbarg unverkennbar den Keim zur nachdenklichen Grübelei, zu jenem Insichversenken, das mit leidenschaftlicher Hartnäckigkeit dem Ursprung und Ausgangspunkt aller Dinge nachgeht und dabei für Augenblicke alle Beziehung zur Außenwelt verliert. Die Kleine mit dem tiefnachdenklichen Blick hörte demnach sicher nicht ein Wort von dem Geplauder der beiden Damen, die hinter ihr auf dem Sofa saßen.
Frau von Herbeck hatte den Arm um Juttas feine Taille gelegt. Die Dame war, trotz ihrer ziemlich vorgeschrittenen Jahre, noch sehr hübsch; das ließ sich gerade in diesem Augenblick feststellen, wo sie sich neben der unvergleichlichen Schönheit des jungen Mädchens recht gut behauptete. Für den feinen Kenner weiblicher Reize waren wohl diese Körperformen zu kolossal und üppig, und manches feinfühlige, reine, weibliche Gemüt mochte sich instinktmäßig von dem oft eigentümlich lächelnden und zugleich schwimmenden Blick abwenden; allein jene Körperfülle erschien so kerngesund und rosig frisch, und die großen, ein wenig vorstehenden Augen konnten in geeigneten Momenten auch wieder so ernsthaft und ehrenhaft dreinblicken, daß das öffentliche Urteil diese Frau einstimmig schön, respektabel und sehr liebenswürdig nannte... Sie war die kinderlose Witwe eines armen, altadligen Offiziers und war bereits zu Lebzeiten der Gräfin Völdern als Giselas Erzieherin im Hause des Ministers tätig gewesen. Stets unbedingt und gewandt auf die Absichten der Großmutter bezüglich des zu erziehenden Kindes eingehend, war sie von der ersteren noch auf dem Sterbebette als diejenige bezeichnet worden, die als »vollkommen passend« die Führung und Ausbildung der Kinderseele in der Hand behalten sollte.
Nun saß sie da im eleganten, dunkeln Seidenkleid, das schöne, volle Haar von geschickten Kammerjungferhänden modern und geschmackvoll geordnet, und erzählte Episoden aus dem Leben und Treiben der großen Welt, und von dem jungen Geschöpf, das sich weich und hingebend an die stattliche Frau schmiegte, war das starre Gepräge der »tiefen, wortlosen Trauer« spurlos weggewischt. Das war wieder die Lebenslust atmende Gestalt, die wir im Brautkleid der Mutter, mit den Tazetten im Haar, vor dem Spiegel gesehen haben – unverwandt und sprühend hingen die dunkeln Augen an dem roten, leichtgeschwellten Mund der Erzählerin, die ein farbenreiches, verlockendes Bild nach dem anderen aufrollte. Die junge Dame war der Wirklichkeit, dem engen Stübchen so gut entrückt wie das denkende Kind am Fenster; nur dann und wann fuhr sie empor und warf einen zornigen Blick nach der Tür. Da draußen lag die alte Rosamunde, die qualmende Küchenlampe neben sich, auf den Dielen und scheuerte mit wahrer Inbrunst Vorsaal und Treppe, als letzten Rest ihrer Weihnachtsarbeiten – sie kannte die Füßchen der »kleinen Panduren« viel zu gut, um nicht zu wissen, daß sie am liebsten schnurstracks aus Pfützen und Straßenschmutz über den frischgescheuerten Fußboden liefen, und deshalb warf sie auf jede neugewaschene Stelle mit unglaublicher Vehemenz ganze Salven schützender Sandbrocken.
Da kamen rasche Schritte über den Vorsaal, und die Pfarrerin trat in das Zimmer. In der Linken trug sie ein brennendes Licht und auf dem rechten Arme ihren in ein dickes, wollenes Tuch gewickelten jüngsten Knaben. Die ganze große, kräftige Frau mit den glühenden Wangen und energischen Bewegungen war das Bild angestrengter Tätigkeit. Sie bot einen freundlichen guten Abend und stellte das Licht auf das Klavier, da beide Damen die Hand über die geblendeten Augen hielten.
»Heute geht's scharf her in der alten Pfarre, nicht wahr, Fräulein Jutta?« meinte sie lächelnd, wobei zwei Reihen kerngesunder, fest zusammengefügter Zähne sichtbar wurden. »Nun, morgen sollen Sie dafür einen recht stillen Feiertag, ein ruhiges, leeres Haus haben. Mein Mann hält die Filialpredigt in Greinsfeld, und meine kleine, wilde Gesellschaft drunten geht auch mit hinüber – die alte Muhme Röder hat sie zum Kaffee eingeladen... Fräulein Jutta, ich möchte Ihnen gern für eine halbe Stunde mein Herzblättchen da lassen – Rosamunde scheuert noch drauf und drein und wird gern brummig, wenn man sie von der Arbeit abruft, und mit den Kindern ist heute absolut nichts anzufangen; sie laufen von einem Schlüsselloch zum anderen, gucken nach dem Himmel, ob er nicht bald dunkel wird, und darüber kann der kleine Schelm da, der gern an den Stühlen aufsteht, zehnmal auf die Nase fallen. Mir aber wären heute zehn Hände nicht zu viel – die Kinder horchen schon auf die Klingel, und es liegt noch nicht ein einziges Stück auf dem Weihnachtstisch.«
Sie wickelte den Kleinen aus dem Tuch und setzte ihn auf den Schoß der jungen Dame. »So, da haben Sie ihn!« sagte sie und strich mit der großen, kräftigen Hand glättend über die weißen Flaumhaare СКАЧАТЬ