Название: Reichsgräfin Gisela
Автор: Eugenie Marlitt
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754187548
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Noch vor Mitternacht schritten zwei Boten durch den beschneiten, aber nun totenstillen Wald nach dem Orte Greinsfeld, um den dortigen Arzt zu holen – ein Arbeiter vom Hüttenwerk und Sievert. In der Hüttenmeisterwohnung tobte der junge Bertold Ehrhardt in rasenden Fieberphantasien – er wehrte unter Verwünschungen unausgesetzt die weißen, bittend gefalteten Hände der Gräfin Völdern von sich ab, die er vor sich auf dem Boden liegen sah mit dem lang nachschleppenden gelben Haar und dem feinen Blutbächlein, das von der Schläfe herab über den schneeigen Hals und Busen rieselte. Im Waldhause aber lag eine, für die der Gang durch den Wald umsonst gemacht wurde. Sie kämpfte den letzten schweren Kampf fast mühelos. Die erkälteten Hände lagen unbeweglich im Schoße; in immer längeren Zwischenräumen säuselte ein fast unhörbarer Atemzug über die Lippen, und die halb zugesunkenen Lider zuckten und zitterten im letzten leisen Krampf – um den Mund aber zog sich bereits jenes stille Lächeln, das wir so gern als das Merkmal süßen Ausruhens und innigster Befriedigung bezeichnen... Wo war die Seele, die vor wenigen Stunden noch mit allen ihren Wunden, und noch einmal auf den Gipfel emporbrausender Leidenschaft sich erhebend, aus den nun gebrochenen Augen gefunkelt hatte?...
Jutta lag am Boden und preßte die Stirne auf das Knie der Sterbenden. In den dunkeln Locken hingen noch die Tazetten, die welkend ihre weißen Blätter falteten, und die prachtvolle blaue Seidenrobe floß über die groben Dielen – sie mahnte mit jedem leisen Knistern und Rauschen grausam an den letzten Schmerz, den die Tochter dem mütterlichen Herzen zugefügt hatte und der sich nicht mehr abbitten, nicht mehr sühnen ließ.
4
Auf dem kleinen, von einer halbzerfallenen Lehmmauer eingefriedigten Kirchhof zu Neuenfeld waren Frau von Zweiflingens sterbliche Überreste vor wenigen Tagen eingesenkt worden. Hier sah man freilich nicht ein einziges jener graubemoosten Zeichen, wie sie in aristokratischen Familiengrüften mit steinerner Zunge reden von ewigen Vorrechten und unübersteiglichen Schranken zwischen den Menschenkindern. Ganz entgegengesetzt dem Zwecke dieses Bilderschmuckes, der selbst angesichts der zerfallenen Erdenherrlichkeit noch Ehrfurcht für das moderne Geschlecht erzwingen will, denken wir nur daran, daß die armen Seelen unverhüllt und maskenlos in Gottes Hand zurückkehren mußten, in der sie anders wiegen als auf dem kleinen Erdenball, wo die Mitwelt götzendienerisch genug ist, weltlichen Besitz und ein Wappenschild in die Wagschale zu werfen...
Jetzt freilich breitete sich die Schneedecke alles einhüllend über die wenigen Hügelreihen des armseligen Dorfkirchhofs, in ihrer weißen Eintönigkeit nur selten unterbrochen durch ein vom Wind halb umgeblasenes schwarzes, schmuckloses Holzkreuz, den Ruheplatz einsamer Krähen – im Sommer aber, da kamen Waldesschatten und Waldesduft über die Mauer, die bergansteigend hart an die letzten Buchen stieß. Da floß und flutete Leben in dem fetten Grün des Haseldickichts, das in den vier Mauerecken wucherte, in den Adern der flinken Grasmücken und Rotkehlchen, die in dem Gebüsch ungestört nisteten, in den Brombeerranken, deren lange Arme vom Waldboden herüber lustig durch die Breschen der zerbröckelten Lehmwand krochen und eine ganze Last saftstrotzender, schwarzer Beeren auf die einsame, gemiedene Rasendecke legten; und der Sonnenstrahl lief emsig hin und her und zog ein buntes Blumenhaupt nach dem anderen aus der Saat des Todes – da klang das majestätische Auferstehen überzeugender als in den Mausoleen, wo Verwesung und Moder die Herren sind...
Vielleicht dieser Gedanke, noch mehr aber wohl der glühende Haß gegen ihre Standesgenossen hatten Frau von Zweiflingen dieses einsame Grab wünschen lassen.
Noch an demselben Tage, an dem das dunkle Erdreich sich über dem ausgeglühten Herzen der Blinden schloß, hatte Jutta am Arm des Hüttenmeisters das Waldhaus verlassen und war in die Neuenfelder Pfarre übergesiedelt; dort sollte sie bleiben bis zu dem Augenblick, wo sie als junge Frau in die Hüttenmeisterwohnung einziehen konnte... So furchtbar auch die Gegenwart auf dem jungen Manne lastete – daheim lag sein Bruder, den er Tag und Nacht allein pflegte, fast hoffnungslos am Nervenfieber, und die Frau, die ihm mütterlich zugetan gewesen war, lebte nicht mehr – bei dem Gang durch den Wald hatte dennoch ein Gefühl unaussprechlichen Glückes alles Leid, alle Sorgen verdrängt. Das blasse Mädchen an seiner Seite, der Abgott aller seiner Gedanken, hatte auf der weiten Gotteswelt nun niemand mehr als ihn, und wenn sie auch schweigend, mit tiefgesenkten Wimpern neben ihm her geschritten war, so still und in sich gekehrt, wie sie ihm nie erschienen, wenn auch die sonst so unruhige, flinke Hand bewegungslos, wie von Marmor, auf seinem Arm gelegen hatte, all dies scheinbar Fremde und Neue in ihrem Wesen hatte ja doch nur den einen Grund, der sie sogar mit einem neuen Nimbus umgab: das Leid um die tote Mutter... Er wußte ja, daß sie an seinem Herzen den starren, tränenlosen Schmerz endlich ausweinen würde, daß ihre junge Seele allmählich jene Frische und übersprudelnde Lebendigkeit wieder erlangen müsse, die ihn, den ernsten, schweigsamen Mann, so unwiderstehlich bestrickten. Wie wollte er sie hegen und behüten!... Er glaubte an sein Glück so unerschütterlich wie an die Tatsache, daß die Sonne über ihm scheine. Hatte ihm Jutta nicht unzähligemal beteuert, daß sie ihn »unendlich liebe« und daß sie sich kindisch darauf freue, als seine kleine Frau im Hüttenhause schalten und walten zu dürfen?...
Die Pfarrerin hatte der jungen Dame das einzige heiz- und bewohnbare Stübchen im oberen Stockwerk des uralten, sehr baufälligen Pfarrhauses eingeräumt. Einige Möbel und das Klavier waren aus dem Waldhause herübergeschafft worden; denn bei »Pfarrers« gab es nicht ein einziges überflüssiges Stück Hausgerät – sie waren mittellos, wie nur je der bescheidene Seelsorger eines armen Thüringer Walddorfes, der als unbemittelter Kandidat ein noch ärmeres Mädchen geliebt und es nach Erlangung der ersten heißgewünschten Pfarrstelle frischweg geheiratet hat... Die kostbaren Möbel aus dem düsteren Turmzimmer mußten sich somit eine abermalige Degradierung gefallen lassen, denn sie standen an weißgetünchten Kalkwänden; allein diese eintönigen Wandflächen waren von einem zarten Gespinst langer Immergrünranken überzogen, und jeder Strahl der Wintersonne, der draußen durch die Schneewolken lugte, kam durch eines der Eckfenster herein und legte goldglänzende Streifen über den lustig grünenden Wandschmuck und die rissigen Dielen des Fußbodens. Freilich lag die köstliche Waldlandschaft vor den Fenstern jetzt unter Schnee und Eis; allein die im Sommer den Blick sehr beschränkenden Laubmassen waren auch unter den Winterstürmen gesunken und ließen manches auftauchen, was sonst wie verschollen hinter grünen Wänden steckte. Dorf Neuenfeld und vor allem das Eckstübchen im Pfarrhause hatten deshalb zur Abendzeit ein selten gesehenes Schauspiel.
Sobald die Sonne erloschen war, dämmerten drüben in dem ziemlich entfernt liegenden und seit Jahren nicht bewohnten Schloß Arnsberg die Lichter auf, und je dunkler die Nacht hereinbrach, desto höher erglühten die Fensterreihen. In den langen Korridoren brannten mächtige, an der Decke schwebende Kugellampen, die mit ihrem weißen Licht auch die entlegensten Winkel und Ecken СКАЧАТЬ