Politische Rhetorik der Gewalt. Dr. Detlef Grieswelle
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Название: Politische Rhetorik der Gewalt

Автор: Dr. Detlef Grieswelle

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

Серия:

isbn: 9783844281552

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СКАЧАТЬ Handlungsfeldern oder in breiten Bereichen der Politik zu besitzen, und legten entsprechend Selbstgerechtigkeit und Selbstüberheblichkeit an den Tag; dem Bewusstsein des Auserwähltseins entsprach die Verdammung der anderen: Herr, ich danke Dir, dass wir nicht so sind wie die Parteipolitiker63. Der Staat und die Politik der großen Parteien wurden hier vielfach verteufelt, geradezu kriminalisiert, weil sie gegen fundamentale Werte des Lebens- und Naturschutzes, der Bewahrung des Friedens, der Verantwortung für sozial Schwache etc. verstießen. Behutsamkeit, Toleranz, Kompromissfähigkeit, Affektregulierung, Realismus, Fehlbarkeit, all dies sind dann keine Orientierungen mehr für die politische Auseinandersetzung. Der politische Gegner wird als schuldiger Feind ausgemacht, gegen den sich kollektive politische Aggression zu richten hat und der fanatisch zu bekämpfen ist. Im Wörterbuch „Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“ werden von Conze und Reinhart64 wesentliche Strukturen eines Feindbildes unter der Fragestellung des Fanatismus herausgearbeitet: Fanatismus meint die Beanspruchung der Ausschließlichkeit der eigenen Auffassung und Feindseligkeit gegen alles, was nicht der eigenen Position entspricht; die Anmaßung absoluter Wahrheitsgewissheit; die Blindheit gegenüber anderen Weltsichten; den Eifer für oder gegen eine Sache; überspitzten Enthusiasmus, Schwärmerei, ja Besessenheit. Bereits 1855 hieß es in einem Lexikon65: „Fanatismus ist blind, einseitig und ausschließend. Charakterisierend ist demnach für den Fanatiker 1), dass er sich der Klarheit des Verstandes verschließt, sich dem Spiele der Fantasie … hinzugeben liebt, wobei 2) gerne eine Idee die fixe in ihm wird. … Es fehlt ihm gleichmäßig an der Ausweitung des Kopfes durch die Bildung wie an der Aufgeschlossenheit des Herzens durch die Liebe, so dass es ihm rein unmöglich ist, sich auf einen anderen Standpunkt zu versetzen. … Darum behandelt er alles nach einer, nämlich nach seiner Schablone und ist 3) ausschließend, feindselig, verfolgungssüchtig gegen alles, was er nicht selbst ist“. Auch wenn der Fanatismus sich häufig nur auf politische Teilbereiche erstreckt, birgt er doch die Gefahr, in antidemokratischen Extremismus und nackte Gewalt umzuschlagen, dafür gibt es auch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hinreichend Beispiele. Für einzelne Personen und Gruppen der Protestbewegungen blieb es nicht bei Forderungen eines sog. kleinen Widerstandsrechts und eines Anspruchs auf Gewalt ausschließlich gegen Sachen.

      Wenn heute zunehmend über eine unzulängliche politische Streitkultur unter Demokraten geklagt wird, dann stellt sich nicht ohne Grund die Frage, ob hier zuvörderst die Methoden und Techniken politischer Auseinandersetzung gemeint sind oder nicht vielmehr die politischen Konflikte selbst, die in hohem Maße für falsch und überflüssig gehalten werden. Wie zahlreiche empirische Untersuchungen, speziell aus der Politologie, zeigen, ist die politische Kultur der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland durch beachtliche Vorbehalte gegenüber streitiger Auseinandersetzung geprägt, und Polemik wird entsprechend dieser konsensuellen Einstellungen eher als Gefahr denn als produktive Notwendigkeit gesehen. Und dies gilt umso mehr, wenn heftig gestritten wird, was dann zumeist als Sittenverfall, zumindest als Stillosigkeit registriert und als Verletzung gewünschter Harmonie abgestraft wird66.

      In der Diskussion über Streitkultur ist also zunächst einmal Partei zu ergreifen für die Legitimität und Notwendigkeit des politischen Streits67. „Er ist der Normalfall in einer offenen und pluralistischen Demokratie, in der Parteien nicht 'das Ganze', sondern Profile und Kontraste vertreten und Parlamente geradezu das Gemeinwesen in seinen Auseinandersetzungen.“ Pluralistische Ordnung impliziert, dass der Weg zum Kompromiss und zum Konsens sowie zur Mehrheitsentscheidung über streitige Alternativen führt: „Die freiheitlich-demokratische Grundordnung beruht auf dieser Voraussetzung. Ihr Institutionengefüge und ihre Verfahrensweisen politischer Willensbildung dienen der Leitidee, diese Voraussetzung praktisch umzusetzen und politischem Handeln und Reden einen möglichst weiten streitigen Sektor zu öffnen“68.

      Die hohe Bedeutung des Streites für die moderne Demokratie findet ihre Begründung in der Pluralismustheorie, die von der Unterschiedlichkeit von Interessen und Meinungen ausgeht und eine Staatskonstruktion zugrunde legt, die deren Artikulation und Konkurrenz ermöglicht: Durch Akzeptanz und Schutz der offenen politischen Willensbildung der Parteienkonkurrenz und der Oppositionsfreiheit sowie durch die Existenz von parlamentarischen Institutionen und Verfahrensstrukturen für die politische Willensbildung. Streit entspreche demnach den normativen Prämissen des demokratischen Staates, meint Oberreuter ganz richtig. Integration entstehe aus Konflikten, Diskussionen und Kompromissen – also aus Streit offener Kommunikation69. „Das größte Defizit an Streitkultur ist die Perhorreszierung des Streits, sodann das Missverständnis seiner potenziellen Reichweite und seiner Grenzen. Von Streitkultur lässt sich sprechen, wenn Vielfalt und ihre öffentliche Artikulation legitim sind, die Grundlagen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unstreitig und wenn Würde und Rechte der Konfliktparteien unangegriffen bleiben“. Die hohe Zustimmung der Bevölkerung in der früheren Bundesrepublik Deutschland zu grundlegenden Prinzipien pluraler Demokratie begründete noch lange nicht ein angemessenes Verständnis politischer Willensbildung: So stimmten 70% dem Statement zu, Auseinandersetzungen der Interessengruppen schadeten dem Gemeinwohl; 92% meinten, die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den Sonderinteressen der Einzelnen stehen, was ein unsäglich formuliertes Statement mit ebenso unsäglicher Zustimmung darstelle, wie Oberreuter formuliert; 65% meinten, die Opposition sollte die Regierung in ihrer Arbeit unterstützen, nicht kritisieren; abstrakt hielten 93% Opposition für eine Voraussetzung lebensfähiger Demokratie, aber konkret beraubten 61% sie ihrer Funktion als Widerpart der Regierung70. Allerdings ist zu beachten, wie Leggewie71 betont, dass hinsichtlich der Harmoniesehnsucht und Streitunfähigkeit der Westdeutschen im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien in den 70er und 80er Jahren eine Normalisierung eingetreten ist.

      Des Weiteren darf die Forderung nach einer Streitkultur im Sinne eines angemessenen Umgangs mit dem Gegner nicht dazu führen, dass der notwendige Streit mit Stilfragen allzu sehr eingeengt wird, Politik in pluraler Demokratie ist vor allem auch Kampf: Kampf um Mehrheiten, damit für richtig und zuträglich gehaltene Problemlösungen Gültigkeit erlangen. Konkurrenz muss auch schmerzen können. Wichtige Themen verdienen herausfordernde Deutlichkeit, Stilargumente dürfen nicht von der Sache selbst ablenken und Alternativen delegitimieren; Oberreuter72 fasst diese Gedanken zusammen: „Wo substanzielle Differenzen zu Kontroversen führen, widerspräche der Versuch, sie durch Stil- und Kulturforderungen einzuebnen und zu harmonisieren, den Prinzipien der Konkurrenzdemokratie.“ Diese gebe dem Dissens normativen Raum, sodass Unterschiede artikuliert werden könnten – nötigenfalls auch hart, deutlich und schonungslos.

      Es ist also nach den Chancen für die Artikulation von Konflikten zu fragen. Die deutsche politische Tradition mit ihren dominanten Werten der Harmonie und Geschlossenheit sowie der Ablehnung der offenen Gesellschaft und Konkurrenzdemokratie legen dies nahe; aber auch heutige Tendenzen, die klare und polemische Artikulation von Meinungen in streitiger Auseinandersetzung als negativ für Parteien, Parlament, Koalitionen und Regierungen zu interpretieren. Antiparteienaffekte und Oppositionsskepsis schöpfen aus solch mangelndem Verständnis für parlamentarische Demokratie und ihre Diskussions- und Willensbildungsprozesse. Grenzen für den Streit werden also neben institutionellen Vorkehrungen und Regelungen der Demokratie in Deutschland in beträchtlichem Maße durch Sanktionierung von Streit und Polemik durch eine kritische Öffentlichkeit gezogen.

      Nichtsdestotrotz ist es nützlich, für Theorie wie praktisches Handeln, Kriterien für eine angemessene Kultur des Streitens zu entwickeln, und das gerade nicht, um Kooperation und Harmonieverständnisse und -bestrebungen zu befördern, sondern um Pluralismus, Konflikte, streitige Auseinandersetzung und auch Polemik zu stärken. Die Kriterien für einen solchen kultivierten Streit können aus dem Fundus der institutionellen Erfahrungen mit Demokratien und aus Geist und Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates gewonnen werden. Zu einer solchen demokratischen Streitkultur gehören folgende fundamentalen Voraussetzungen, die wir in Anlehnung an eine wegweisende Typisierung von Sutor auf den Punkt bringen73:

      1. Es müssen gute grundlegende kulturelle Bedingungen für die Möglichkeit friedlicher Austragung politischer Konflikte vorliegen (Anerkennung fundamentaler Gleichheit aller СКАЧАТЬ