Humbug & Mumpitz – 'Regietheater' in der Oper. Christian Springer
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СКАЧАТЬ und Kostümen – alles möglichst aktualisiert, dekonstruiert, zertrümmert, ironisiert oder verfremdet – unter willkürlicher Einbeziehung werkfremder Elemente über alle anderen wesentlichen Komponenten des inszenierten Werkes dominiert. Die Wortkreation ‚Regietheater‘ ist an sich pleonastisch und ebenso unsinnig wie ihr Inhalt. Wie bei „Fußpedal“, „Rückantwort“ oder „Haarfrisur“ wird einem Substantiv ein zweites Substantiv beigefügt, das keine zusätzliche Information liefert und somit überflüssig oder sinnlos ist, denn dass zum Theater Regie gehört, ist eine Selbstverständlichkeit und müsste nicht eigens betont werden. Der Begriff ‚Regietheater‘ muss also etwas ganz Besonderes beschreiben. Er steht in der Tat für etwas zuvor nie Dagewesenes, nämlich für das Axiom, die Regie sei wichtiger als alles andere: wichtiger als die Darsteller und wichtiger als das Stück selbst. Das Verständnis des durch die Regie an sich im Sinne des Autors darzustellenden Werkes wird dadurch in falsche – vom Regisseur und nicht vom Autor erdachte – Bahnen gelenkt oder gänzlich verhindert. Der Regisseur, solcherart vom subalternen Erfüllungsgehilfen[46] zum selbsternannten Schöpfer aufgestiegen, tritt dabei manchmal sogar als tantiemenbezugsberechtigter Bearbeiter auf.

      PRIMA LA REGÍA, POI L’OPERA?

      Vor nicht allzu langer Zeit behauptete ein nicht mehr ganz junger deutscher Jungschauspieler mit vernachlässigbarer Regie-Erfahrung (er hatte einmal eine Studentenaufführung von Schillers Die Räuber inszeniert) in einer TV-Diskussion über „Sinn und Unsinn des Regietheaters“[47] allen Ernstes, die Inszenierung sei wichtiger als das Stück. Überträgt man derlei nicht argumentierbaren Unsinn in die Realität, ergibt sich daraus zwingend die Schlussfolgerung, der Umschlag eines Buches sei wichtiger als dessen Inhalt, die Fassade wichtiger als das dahinter befindliche Haus, oder die Lackierung eines Automobils wichtiger als das Fortbewegungsmittel. So etwas behauptet allerdings niemand, der sich mit der Materie ernsthaft vertraut gemacht hat.

      Was derlei absurden Positionen möglicherweise zugrunde liegt, ist der Umstand, dass vorliegende Werke vergangener Epochen – Theaterstücke wie Opern – vom Regietheater immer häufiger als Vehikel zum Transport von Aussagen verwendet werden, die Regisseure von sich aus tätigen wollen und die mit den Stücken rein gar nichts zu tun haben. Da die Spielleiter mangels Können und Talent zumeist nicht in der Lage sind, gute eigene Stücke zu schreiben oder zu komponieren, missbrauchen sie fremdes Material dafür. So mag Hamlet als Vorwand für Pornographie in einer psychiatrischen Klinik dienen, oder Die Räuber nackten Darstellern als blut-, kotze- und spermaverschmiertes Vehikel für vorgebliche Kritik an der heutigen Gesellschaft. An diesen vom Feuilleton nicht nur geduldeten, sondern aus geradezu pathologischer Sucht nach Neuem und vor allem Modischem sogar geförderten Missständen ändern auch zeitgenössische Stücke nichts, denn ihre Autoren sind noch am Leben und wehren sich gegen einen solchen Missbrauch.

      Die Degeneration vieler szenischer Interpretationen mit ihren monströsen, werkentstellenden, sinnlosen Inhalten wird allerdings erst durch die Degeneration jenes Teils des Publikums und der Kritik ermöglicht, der sie hinnimmt oder sogar akklamiert. Oder, wie Erich Kästner sagte: „An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.“[48]

      Man kann Teile des Publikums nicht für gänzlich unschuldig an der Situation erklären. Ob es nun an dem Gebotenen liegt oder ob es einfach an wirklichem Interesse am Dargebotenen mangelt: Es sind Verhaltensweisen der Zuschauer festzustellen, die noch vor dreissig Jahren so nicht zu beobachten waren. In den Pausen der Aufführungen wird heute zumeist nicht mehr über das Stück, die Sänger, den Dirigenten, die musikalische Interpretation, die Inszenierung usw. gesprochen, sondern über Berufsprobleme, Kindererziehung, Politik, Mode etc. Dies unter der Voraussetzung, dass die Zuschauer die Vorstellung nicht vorzeitig verlassen haben. Und nicht selten kann man gelangweilte Zuschauer während den Vorstellungen dabei beobachten, wie sie auf ihren Smartphones SMSs lesen oder schreiben.

      Der an dieser Stelle zu erwartende Einwand, im 18. und 19. Jahrhundert habe man in den Theaterlogen während der Vorstellungen geplaudert, gespeist, getrunken und sonstige angenehme Tätigkeiten vollzogen, seine Aufmerksamkeit also nicht ungeteilt dem musikalischen und szenischen Geschehen gewidmet, kann durch das Faktum entkräftet werden, dass das Interesse am Gebotenen so hoch war, dass man die jeweils neuen Opern mehrmals besuchte und sich über die musikalischen Qualitäten der Werke und die Interpretationen intensiv austauschte.

      Während ein anderer Teil des Publikums und viele Ausführende seit langem versuchen, den erwähnten Unfug zu verhindern, wird er von vielen sich den Anschein von Modernität gebenden Operndirektoren und Feuilletonisten mit fadenscheinigen Argumenten unterstützt und als allein seligmachend und „zeitgemäß“ propagiert (wobei die Definition des Begriffs „zeitgemäß“ samt entsprechender Begründung immer fehlt). Entstanden ist dieses vorwiegend deutsche Phänomen aus einer Vielzahl von Gründen.

      Ein Grund ist das im Schwinden begriffene Selbstdarstellungsvermögen der Bühnen. Trotz der großen Anzahl kleiner, mittlerer und großer Ein- und Mehrspartentheater, die im deutschen Sprachraum Opern aufführen, müssen diese immer eindringlichere, gelegentlich auch fragwürdige Marketingmethoden einsetzen, um Publikum anzuziehen, um die öffentlichen Gelder, die sie verbrauchen, zu rechtfertigen und um von den marktschreierischen Medien überhaupt wahrgenommen zu werden.

      Diese Medien sind derzeit damit beschäftigt, gute Geschäfte zu machen, indem sie ein neuartiges Phänomen (be)fördern. Sie vermitteln erfolgreich das Bewusstsein, dass jemand nicht nur ohne Ausbildung, Talent, Können und Leistung zum „Superstar“ werden, sondern dies sogar über gewisse Zeiträume hinweg bleiben und dabei beträchtliche Summen lukrieren kann (von „verdienen“ soll dabei tunlichst nicht die Rede sein). „Heute kann jeder Schauspieler werden oder Popstar“, sagt der Burgschauspieler Nicholas Ofczarek. „Alles geht. Es hält sich nur nicht lang. Das Mittelmaß regiert die Welt. Aber langsam bricht alles ein.“[49] Vollends pervertiert wird dieses Phänomen dadurch, dass auch intensiv über „Stars“ und „Ikonen“ berichtet wird, ohne dass erkennbar würde, was die jeweiligen Personen überhaupt machen und worin ihre Leistungen bestehen. Solche Medien, die bei gewissen Publikumsschichten mit Erfolg meinungsbildend wirken, sind für Opernübertragungen natürlich nicht zu interessieren, denn die sind ihnen und ihrem Publikum herzlich egal. Ihnen sind ja sogar die erst gestern gehypten „Stars“ egal, wenn sie nicht wie erhofft funktionieren und den Knebelverträgen der Fernsehanstalten nicht widerspruchslos Folge leisten.

      Was sollen Opernhäuser also tun, um Aufmerksamkeit zu erregen und in die Schlagzeilen zu kommen? Man engagiert nicht mehr teure, verhaltensauffällige oder unzuverlässige skandalträchtige Stars (die auch nicht mehr das sind, was sie einmal waren, denn wer kann heute schon mit dem europaweit wahrgenommenen Eklat mithalten, zu dem es kam, als sich 1727 die Primadonnen Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni auf offener Bühne im Londoner King’s Theatre kreischend beschimpften, mit der von den Medien herbeigeschriebenen „Rivalität“ zwischen Maria Callas und Renata Tebaldi, die jahrelang die Klatsch- und Kulturseiten der Printmedien füllte, oder mit dem unerhörten Faktum, dass Maria Callas eine Norma-Vorstellung in Rom nach dem ersten Akt krankheitshalber abbrach, obwohl der italienische Staatspräsident anwesend war), sondern man baut auf Regietheaterskandale, die unter dem Strich billiger sind, nicht nur beim Boulevard mittels Empörungs- und Rufzeichenjournalismus ihre Wirkung tun und es bisweilen sogar auf die Titelseiten schaffen.

      Sogar ein seriöses Theater wie das Royal Opera House, Covent Garden, sieht sich gezwungen, zu diesen Mitteln zu greifen. So war kürzlich zu lesen: „Taking the precaution of advising ticket-holders to Lucia di Lammermoor that Katie Mitchell’s new production would contain scenes of strongly sexual and violent nature, the Royal Opera has found itself at the centre of another controvery about the style and contents of its stagings. This follows the uproar last summer after the depiction of a rape in Guillaume Tell, and the latest response included requests from a number of patrons for refund. Mitchell is no stranger to such strong imagery. She directed Sarah Kane’s play Cleansed at the National Theatre in СКАЧАТЬ