Humbug & Mumpitz – 'Regietheater' in der Oper. Christian Springer
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Humbug & Mumpitz – 'Regietheater' in der Oper - Christian Springer страница 6

СКАЧАТЬ wobei es nicht das Orchester ist, das die Handlung vorantreibt und im Zentrum des Interesses steht, sondern die Singstimme. Aus diesem Grund langweilen sich die meisten Opernbesucher südlich der Alpen bei den tiefsinnigen Opern der „Nordländer“ zu Tode, da in ihnen der im 19. Jahrhundert oft beschworene, den Südländern („deren geistige Tätigkeit gering ist“ und die „in der geistigen Bequemlichkeit“, wie Hanslick erkannt hat, dahinvegetieren) überlegene „deutsche Geist“ weht, wir wir ihn bei Arthur Schopenhauer oder Richard Wagner vorfinden.

      Herr Hanslick hätte, als er zum Gegner Wagners geworden war, nie zu hoffen gewagt, dass jemand auf Wagners Lohengrin oder Walküre so reagieren könne wie so mancher italienische „Musikbold“. Einer von diesen, Giuseppe Verdi, hat schon siebzehn Jahre vor der ersten Aufführung einer Wagner-Oper in Italien sein elementares Credo zur Theaterpraxis zu Protokoll gegeben: „Im Theater [= im Opernhaus] ist lang ein Synonym für langweilig, und Langeweile ist das schlimmste aller Übel“[28]. Er teilte diese Auffassung mit seinem deutschen Kollegen und Freund Ferdinand von Hiller[29], der zu einer Wagner-Oper angemerkt hatte:

      Im Theater geben sie jetzt das „Rheingold“ (die „Walküre“ kommt nach), das Einen verrückt machen kann vor Langeweile, – aber doch viel Geld macht, da die Leute von allerwärts herkommen, um die schwimmenden Nixen und die glühenden Dämpfe zu sehen und sich nebenbei an den Recitativen des Göttergesindels zu erfreuen. Ich muß jedoch sagen, dass das Publikum sich sehr kühl dazu verhält.[30]

      Unwillkürlich denkt man in diesem Zusammenhang an das bekannte Diktum: „Wagner hat geglaubt, dass alles, was zu lang ist, eine Oper ist.“

      Verdi war im November 1871 anlässlich der italienischen Erstaufführung des Lohengrin (gleichzeitig die erste Aufführung einer Wagner-Oper in Italien) nach Bologna gereist, um diese Oper zu hören. Er trug in seinen Klavierauszug zahlreiche Bemerkungen über die Aufführung (im 1. Akt z.B.: „zu laut / unverständlich / schön, doch schwer erträglich wegen der ständigen hohen Noten der Violinen [am Ende des Vorspiels] / sehr falsch [Chor] / hässlich / schlecht / schön, schlecht gesungen, um einen Viertelton zu tief“ usw.) und seine Eindrücke von dem Werk ein. Sein Gesamturteil:

      Insgesamt: Mittelmäßiger Eindruck. Musik schön; wenn sie verständlich ist, hat sie Gedankentiefe. Die Handlung ist schleppend wie das Wort. Also langweilig. Schöne Wirkung der Instrumente. Missbrauch von langen Noten und schwer erträglich. Mittelmäßige Aufführung. Viel verve, doch ohne Poesie und Feinheit. An den schwierigen Stellen immer schlecht.[31]

      Zum Unterschied von den Werken seines gleichaltrigen Kollegen waren Verdis Opern nie langweilig, weitschweifig oder umständlich. Mosco Carner, der weiter unten zitiert wird, hat zum Thema Verdi-Wagner scharfsinnig bemerkt: „In gewissem Sinne stellt Otello die Lösung dar, die ein großer Italiener für die Probleme gefunden hatte, die das deutsche Musikdrama aufwarf.“[32]

      Der zweite „Musikbold“, der hier zitiert werden soll, ist Arrigo Boito, Komponist, Übersetzer, Literat und Verdis Librettist bei der Überarbeitung von Simon Boccanegra sowie bei Otello und Falstaff. Er war in seiner Jugend ein glühender Wagnerianer gewesen und berichtete 1893 dem offensichtlich interessierten Verdi über eine Walküre-Vorstellung an der Mailänder Scala:

      Die Mailänder Presse hat sich auf Mascheroni[33] wie auf einen tollwütigen Hund gestürzt und ihn für die unendliche Langeweile verantwortlich gemacht, die die Oper hervorgerufen hat, und das ist ungerecht.

      Der Hauptgrund, weshalb die Oper nicht gefiel, muss in der Oper selbst und in dem von Wagner angewandten System gesucht werden. Ein weiterer Grund ist die Weiträumigkeit der Bühne, die die gesamte Struktur des Dramas dürftig erscheinen lässt. Eine läppische Handlung, die langsamer als ein Personenzug vorankommt, der bei jeder Station anhält, und eine endlose Abfolge von Duetten durchfährt, während derer die Bühne kläglich leer bleibt und die Figuren stupide bewegungslos verharren. All das ist nicht geeignet, [den Zuhörer] zu erfreuen.[34]

      Warum das von den Südländern (im Gegensatz zu den überlegenen „Nordländern“) mit einiger Berechtigung so wahrgenommen wird, hat der britische Musikwissenschaftler, Dirigent und Kritiker Mosco Carner (1904-1985) in seinem Standardwerk über Puccini[35] sehr schön erklärt. Er hat das Wesen, die Funktionsweise und die Wirkung der italienischen Oper so gescheit beschrieben, dass jeder halbwegs intelligente Regisseur, der der Regietheater-Ideologie anhängt, von vornherein von seinem Tun ablassen müsste. Hier die wesentlichen Passagen zu diesem Thema:

      „‚Das oberste Gebot ist es, zu gefallen und zu rühren; alle anderen Gebote dienen nur, um dieses erste zu erfüllen.‘ Dieser Ausspruch Racines ist wahrscheinlich die knappste Formulierung der Grundregeln des dramatischen und musikalischen Theaters in den romanischen Ländern. [...]

      Von Monteverdi bis zu Verdi und Puccini [...] haben alle Komponisten in den romanischen Ländern sich immer bemüht, alle anderen Gebote diesem obersten Gebot unterzuordnen. Ein vollkommenes Gleichgewicht in diesem Sinne hat Mozart erreicht, der seiner im Grunde romanischen Grundkonzeption der Oper eine Tiefe hinzugewann, die er aus dem deutschen Element seiner übernationalen Genies einbringen konnte. [...]

      Gleichbleibendes Thema der italienischen Opernkomponisten sind die miteinander streitenden einfachen Leidenschaften des Herzens; die elementare Polarität von Freude und Schmerz sorgt sowohl bei Monteverdi wie auch bei Puccini für die dramatische Bewegung. Die traditionelle italienische Oper ist an die Grundgefühle gebunden; deren Gegensatz erzeugt ein einfaches menschliches Drama unter den Vorzeichen von Liebe und Hass, Freude und Traurigkeit, Entzücken und Verzweiflung. [...]

      Die Vielfalt dieser Konzeption führt zu Konsequenzen, die für das Verständnis der Ästhetik der italienischen Oper überaus wichtig sind sind. Sie erklären die hohe Gefühlsanspannung, den starken Stimmunggegensatz, den unfehlbaren dramatischen Zugriff und, musikalisch gesehen, die Konzentration auf die Melodie als das Element mit vitalem Zugang zu unseren Gefühlen. Die unmittelbarste Form der Melodie ist der Gesang, daher die Vormachtstellung der Singstimme in der italienischen Oper. Die menschliche Stimme ist das natürlichste Instrument und am meisten befähigt, sinnliche und emotionale Wirkungen hervorzurufen. Für den italienischen Opernkomponisten macht die Stimme fast die ganze Figur aus, und deshalb muss die Zeichnung der Figur in erster Linie durch die Gesangsstimme zustande kommen. Zudem ist die Stimme auch die klangliche Äußerung des Sexus, und als solche eine charakterisierende Kraft par excellence. Allein der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Stimme ist schon in sich dramatisch. Wenn wir die Gewalt und Sinnlichkeit der italienischen Stimme und die dramatische Kraft und erregende Eigenschaft der italienischen Sprache hinzunehmen wird verständlich, weshalb die italienische Oper jahrhundertelang Hauptwirkungen mit den Mitteln des Stimme erzielt hat. Diese Vorherrschaft der Stimme erklärt auch, weshalb die italienische Oper des 18. Jahrhunderts eine so fruchtbarer Boden für gesangliche Ausschreitungen wie die Koloratur-Arie, für den Kult der Stimmvirtuosen (Prima donna und primo uomo) und das Kastratenwesen werden konnte. In der italienischen Kantilene verbinden sich Rede, Gedanke und Empfindung zu solcher Einheit, dass man glauben könnte, die musikalische Phrase entstehe erst in dem Augenblick, in dem sie gesungen wird. Und eben dies verleiht der italienischen Opernarie ihre unwiderstehliche dramatische Wirkung.

      Monteverdi stand am Aufgang der italienischen Oper, Puccini an ihrem Untergang, beide verdeutlichen ebenso wie die lange Reihe von Opernkomponisten zwischen ihnen die vier Grundmerkmale der italienischen Opernkunst: umanità, sincerità, passione, effetto. ‚Effetto‘ bedeutet nicht bloß den augenfälligen Bühneneffekt, sondern muss auch als der Inbegriff aller dramatischer Faktoren verstanden werden. Keine wirklich italienische Oper vernachlässigt diese vier Punkte, wenngleich sie durch Zeit, Geschmack und Stil variiert werden. [...]

      In den Augen der italienischen [...] Komponisten ist das Opernhaus kein Tempel, keine moralische Anstalt, wie Schiller und Wagner wollten, sondern eine Arena, in der ein großes СКАЧАТЬ