Abenteurer des Schienenstranges. Jack London
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Название: Abenteurer des Schienenstranges

Автор: Jack London

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783754171974

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      »Sie sind hungrig, armer junger Mann«, sagte sie. Ich hatte sie dazu gebracht, das erste Wort zu sprechen.

      Ich nickte und schluckte.

      »Es ist das erstemal, daß ich je ... gebettelt habe«, sagte ich mit zitternder Stimme.

      »Kommen Sie herein!« Die Tür wurde weit geöffnet. »Wir haben selbst gerade fertig gegessen, aber es ist noch Feuer auf dem Herde, und ich kann Ihnen schnell etwas machen.«

      Als ich ins Licht trat, betrachtete sie mich forschend. »Ich wünschte, mein Junge wäre so gesund und stark wie Sie«, sagte sie. »Aber er ist nicht stark. Manchmal fällt er hin. Gerade heute nachmittag ist er wieder hingefallen und hat sich bös gestoßen, der arme Junge!«

      In ihrer Stimme lag eine unsagbare Mütterlichkeit und Milde, und ich sehnte mich, teil daran zu haben. Ich sah ihn an. Er saß dünn und blaß, mit verbundenem Kopfe an der andern Seite des Tisches. Er regte sich nicht, aber seine Augen, die im Schein der Lampe schimmerten, ruhten anhaltend und verwundert auf mir.

      »Gerade wie mein armer Vater«, sagte ich. »Er hatte die Fallsucht. Eine Art Schwindel. Die Ärzte waren ratlos. Sie konnten nicht herausbekommen, was mit ihm los war.«

      »Ist er tot?« fragte die Frau sanft und legte mir ein halbes Dutzend weichgekochte Eier vor.

      »Tot«, schluchzte ich. »Vor vierzehn Tagen. Ich war bei ihm, als es geschah. Wir wollten über eine Straße gehen. Auf einmal fiel er hin. Er kam nicht wieder zum Bewußtsein. Man trug ihn in eine Apotheke, und dort starb er.«

      Und so verbreitete ich mich über die mitleiderregende Geschichte meines Vaters – wie er mit mir nach dem Tode meiner Mutter den Hof verlassen hatte und nach San Francisco gegangen war; wie seine Pension (er war alter Soldat) nicht ausreichte, und wie er sein Glück als Kolporteur versucht hatte. Auch von meinen traurigen Erlebnissen in den wenigen Tagen nach seinem Tode erzählte ich, die ich allein und verlassen in den Straßen San Franciscos verbracht hatte. Die gute Frau briet Speck und kochte noch mehr Eier, und ich aß alles, was sie mir vorsetzte, und dabei verbreitete ich mich mit immer größerer Beredsamkeit über den armen elternlosen Jungen. Immer mehr Einzelheiten erzählte ich. Ich wurde wirklich dieser arme Junge. Ich hätte selbst über mich weinen können. Ich weiß, daß meine Stimme zuweilen von Tränen erstickt war. Es war sehr wirkungsvoll.

      Tatsächlich: bei jedem neuen Zuge, mit dem ich das Bild ausstattete, gab mir die gute Seele mehr. Sie packte mir etwas zum Mitnehmen ein, darunter viele gekochte Eier und Pfeffer und einen großen Apfel. Sie versah mich mit drei Paar dicken rotwollenen Socken. Sie schenkte mir reine Taschentücher und andere Sachen, die ich vergessen habe Und unterdessen gab sie immer mehr zu essen, und ich stopfte immer mehr in mich hinein. Ich fraß wie ein Wilder, aber es war auch eine weite Strecke in einem blinden Güterwagen über die Sierra, die vor mir lag, und ich wußte nicht, wann und wo ich das nächste Mal etwas zu essen bekommen würde. Und die ganze Zeit über saß ihr eigener unglücklicher Junge, wie ein Totenkopf beim Feste, stumm und unbeweglich da und starrte mich von der andern Seite des Tisches an. Für ihn stellte ich wohl die Mystik, die Romantik, das Abenteuer dar – alles, was ihm bei seiner schwach zuckenden Lebensflamme versagt war. Und doch schoß es mir ein paarmal durch den Kopf, daß er mich vielleicht bis auf den Grund meiner verlogenen Seele durchschaut hätte.

      »Wohin gehen Sie jetzt?« fragte die gute Frau mich. »Nach Salt Lake City«, sagte ich. »Dort habe ich eine Schwester, eine verheiratete Schwester.« (Ich dachte nach, ob ich sie zur Mormonin machen sollte, ließ es dann aber bleiben.) »Ihr Mann ist Unternehmer.«

      Nun wußte ich gut, daß Unternehmer in der Regel viel Geld verdienen. Aber ich hatte es einmal gesagt. Ich mußte es nach Möglichkeit wieder gutmachen.

      »Sie würden mir das Reisegeld geschickt haben, wenn ich darum gebeten hätte«, erklärte ich, »aber sie haben Krankheit und geschäftliches Unglück gehabt. Sein Kompagnon hat ihn betrogen. Und da wollte ich nicht schreiben und um Geld bitten. Ich wußte, daß ich schon irgendwie hinkommen würde. Ich ließ sie in dem Glauben, daß ich genug hätte, um nach Salt Lake City zu kommen. Sie ist lieb und gut. Sie ist immer gut gegen mich gewesen. Ich denke, ich werde zu meinem Schwager in die Lehre kommen und später in sein Geschäft eintreten. Sie haben zwei Töchter. Die sind jünger als ich. Eine ist noch ganz klein.«

      Von allen verheirateten Schwestern, die ich über die Vereinigten Staaten ausgestreut habe, ist die Schwester in Salt Lake City sicher die beste. Sie steht ganz lebendig vor mir. Wenn ich von ihr erzähle, kann ich sie, ihre beiden kleinen Mädchen und ihren Mann, den Unternehmer, gleichsam vor mir sehen. Sie ist eine große, mütterliche Frau, die ein wenig stark zu werden beginnt, wie es oft der Fall bei gutmütigen Frauen ist, die gut kochen können und nie böse werden. Sie ist dunkel. Ihr Mann ist ein ruhiger, bequemer Mensch. Manchmal ist mir fast, als kennte ich ihn. Und wer weiß, ob ich ihm nicht eines Tages begegnen werde? Wenn der alte Seemann sich Billy Harpers erinnern konnte, so sehe ich nicht ein, warum ich nicht eines Tages dem Unternehmer begegnen sollte, der mit meiner Schwester verheiratet ist, die in Salt Lake City wohnt.

      Anderseits habe ich das sichere Gefühl, daß ich nie meinen vielen Eltern und Großeltern begegnen werde – denn sehen Sie, die habe ich unweigerlich ums Leben gebracht. Ein Herzleiden war meine Lieblingsmethode, um meine Mutter loszuwerden, aber in geeigneten Fällen habe ich sie auch an Schwindsucht, Lungenentzündung und Typhus sterben lassen. Allerdings: die Polizei in Winnipeg kann bezeugen, daß ich Großeltern habe, die in England wohnen; aber das ist lange her, und warum sollten sie nicht seither gestorben sein? Auf jeden Fall haben sie mir nie geschrieben. Ich hoffe, daß die Frau in Reno diese Zeilen lesen und mir meine Frechheit und Verlogenheit verzeihen wird. Ich entschuldige mich nicht, denn ich schäme mich nicht. Es waren Jugend, Lebensfreude und heiße Abenteuerlust, die mich an ihre Tür führten. Es tat mir gut. Es lehrte mich, wie herzensgut Menschen sein können. Ich hoffe auch, daß es ihr gut tat. Jedenfalls kann sie einmal tüchtig lachen, wenn sie den wirklichen Zusammenhang erfährt. Für sie war meine Geschichte »wahr«. Sie glaubte an mich und meine ganze Familie und war von Sorge erfüllt bei dem Gedanken an die beschwerliche Reise, die meiner wartete, ehe ich nach Salt Lake City kam. Diese Besorgnis hätte mich fast in Verlegenheit gebracht. Gerade als ich, den Arm voller Pakete mit Essen und die Taschen von wollenen Socken strotzend, aufbrach, fiel ihr ein Onkel, Neffe oder sonstiger Verwandter ein, der bei der Post angestellt war und noch dazu mit demselben Zuge, mit dem ich mich aus dem Staube machen wollte, ankommen sollte. Das war eine schöne Bescherung! Sie wollte mich zum Bahnhof begleiten, ihm meine Geschichte erzählen und ihn veranlassen, mich im Postwagen zu verstecken. So käme ich ohne Gefahr und Mühe nach Ogden. Von dort seien es nur noch ein paar Meilen bis Salt Lake City. Das Herz sank mir. Sie wurde ganz erregt, setzte ihren Plan in allen Einzelheiten auseinander, und unglücklich, wie ich war, mußte ich tun, als wäre ich entzückt und begeistert über die Lösung! Lösung! Ich hatte mich entschlossen, am Abend nach dem Westen zu reisen, und nun war ich gefangen und mußte nach dem Osten, ja, geradezu gefangen, und ich wagte nicht, ihr zu erzählen, daß alles Lüge und Erfindung gewesen war. Und während ich auszusehen versuchte, als sei ich entzückt, zerbrach ich mir den Kopf, um einen Ausweg zu finden. Aber es gab keinen. Sie wollte mich selbst zum Postwagen bringen, und dann sollte mich der Postbeamte, der mit ihr verwandt war, nach Ogden mitnehmen. Und dann war ich gezwungen, mich diese Hunderte von Meilen Wüste zwischen den beiden Stationen wieder zurückzuschleppen. Aber an diesem Abend stand mir das Glück bei. Gerade in dem Augenblick, als sie ihren Hut nehmen wollte, um mich zum Bahnhof zu begleiten, fiel ihr ein, daß sie sich geirrt hatte. Der Postbeamte, der mit ihr verwandt war, kam an diesem Abend gar nicht durch die Stadt. Sein Zugplan war verändert. Er kam erst in zwei Tagen. Ich war gerettet, denn selbstverständlich erlaubte meine schrankenlose Jugend mir nicht, zwei Tage zu warten. Ich versicherte ihr mit großem Optimismus daß ich schneller nach Salt Lake City käme, wenn ich gleich aufbräche, und verließ sie mit ihren Segenswünschen im Ohr.

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