Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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Eine kurze Anmerkung. Es ist das zweite Mal, daß dem Verfasser dieses Buches bei seinen Studien über die Strafgerechtigkeit die Entwendung eines Brodes als Ursache der Vernichtung einer menschlichen Existenz aufstößt, Claude Gueux hatte ein Brod gestohlen, Jean Valjean desgleichen. Laut einem statistischen Bericht ist in vier Fällen unter fünf der Diebstahl eine Folge des Hungers.
Jean Valjean hatte das Gefängniß schluchzend und Verzweiflung im Herzen betreten; als er es verließ, war er ein harter, finstrer Mann geworden.
Was war inzwischen in seiner Seele vorgegangen?
VII. Wie es im Herzen eines Verzweifelten aussieht
Versuchen wir es klar zu legen.
Die Gesellschaft muß dergleichen Dinge ihrer Beachtung würdigen, denn sie giebt ja den Anlaß zu ihrer Entstehung.
Jean Valjean war, wie schon erwähnt, ohne Bildung; aber doch auch kein Dummkopf. Seinem Verstand erleuchtete ein natürliches Licht. Das Unglück, das aufhellend wirkt, verstärkte dieses schon vorhandene Licht. Die Stockschläge, die Last der Kette, die Qualen der Zellenhaft, die Ueberarbeitung, die Härte seiner Lagerstätte zwangen ihn Einkehr in sein Gewissen zu halten und nachzudenken.
Er unterwarf also seinen Fall einer sorgfältigen Prüfung und lud zunächst sich selber vor das Tribunal seines Gewissens.
Als Resultat der Untersuchung ergab sich, daß er kein ungerecht bestrafter Unschuldiger war. Er gestand sich ein, daß er zu weit gegangen, daß er sich etwas Tadelnswerthes hatte zu Schulden kommen lassen. Man hätte ihm das Brod vielleicht nicht abgeschlagen, wenn er darum gebeten hätte. Er konnte warten, bis man es ihm aus Mitleid schenkte, oder er es mit seiner Hände Arbeit verdiente. Der Einwand, daß ein Hungriger nicht warten könne, war auch nicht stichhaltig. Denn es ist selten, das; ein Mensch wörtlich Hungers stirbt. Glücklicher oder unglücklicher Weise kann der Mensch viel aushalten, in moralischer und physischer Hinsicht, ohne zu sterben. Er hätte sich also gedulden sollen, was auch im Interesse der Kinder das Beste gewesen wäre. Es war eine Thorheit, daß er, schwach wie er als Einzelner war, gewaltthätig gegen die Gesellschaft wurde und sich einbildete, der Diebstahl werde ihn aus dem Elend retten. Auf dem Wege, der zur Schande führt, konnte er doch nicht aus dem Elend herauskommen! Kurz er sah ein, daß er nicht recht gethan hatte.
Nun warf er die Frage auf, ob er allein schuld an seinem Unglück sei. Ob das nicht eine bedenkliche Sache war, daß es ihm, einem Arbeiter, an Arbeit, ihm, einem fleißigen Menschen, an Brod gefehlt habe. Ob ferner, nachdem das Vergehen begangen und eingestanden war, die Strafe nicht übertrieben hart ausfiel. Ob das Gesetz nicht zu weit gegangen in der Bestrafung, wie er in seiner Verschuldung. Ob nicht auf der einen Wagschale, derjenigen, auf der die Sühne lag, ein Uebergewicht vorhanden war. Ob nicht die übermäßige Härte der Strafe das Vergehen aufhob und nicht das Verhältnis umkehrte, so daß jetzt die richtende Gewalt die Stelle des Verbrechens einnahm, der Verurtheilte und Schuldige sich als derjenige Theil erwies, dem Unrecht widerfahren war, als Gläubiger, nicht mehr als Schuldner. Ob die Strafe, samt ihren, wegen der Fluchtversuche auferlegten Verschärfungen sich nicht schließlich zu einer Art Attentat des Stärkeren gegen den Schwächern, zu einem Verbrechen der Gesellschaft gegen ein Individuum zuspitzte, zu einem Verbrechen, das sich täglich wiederholte, das neunzehn Jahre lang begangen wurde.
Er fragte sich auch, ob die Gesamtheit das Recht habe, die Folgen der unvernünftigen staatlichen Einrichtungen und der unerbittlichen Härten des Gesetzes dem Einzelnen aufzubürden, und einen armen Teufel in die Enge zu treiben zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel, zu wenig Arbeit und zu viel Strafe.
Ob es nicht eine Ungeheuerlichkeit sei, daß die Gesellschaft gerade die vom Zufall am wenigsten Begünstigten so behandle, also gerade diejenigen, die am meisten der Schonung bedürften.
Nachdem er diese Fragen gestellt und gelöst, sprach er das Urtheil über die Gesellschaft.
Es lautete, daß sie seines Hasses schuldig sei.
Er machte sie für sein unglückliches Loos verantwortlich und sagte sich, er werde vielleicht sich nicht bedenken, eines Tages Rechenschaft von ihr zu verlangen. Er erklärte in seinem Innern, es bestehe kein Gleichgewicht zwischen dem Schaden, den er verursacht, und demjenigen, den man ihm, zugefügt hatte. Er zog endlich das Facit, daß seine Bestrafung zwar keine Ungerechtigkeit, wohl aber eine Unbilligkeit war.
Der Groll kann thöricht und abgeschmackt sein, wer erzürnt ist, hat dazu nicht immer einen zulänglichen Grund; aber entrüstet ist man nur, wenn man in irgend einem Punkte Recht hat. Jean Valjean empfand Entrüstung.
Ueberhaupt hatte ihm die Gesellschaft nur Böses zugefügt. Wenn sie ihm ihr Antlitz zukehrte, geschah es nur um Zorn zu bekunden, auf ihn loszuschlagen, was sie »Gerechtigkeit« nannte. Die Menschen hatten sich um ihn nur bekümmert, um ihn zu martern. Bei jeder Berührung mit ihnen fiel ein Schlag auf ihn. Seit seiner Kindheit, seitdem er seine Mutter verloren, seitdem er von seiner Schwester getrennt war, nie war ihm ein freundliches Wort, nie ein wohlwollender Blick gespendet worden. Die endlosen Qualen befestigten in ihm schließlich die Ueberzeugung, das Leben sei ein Kampf, indem er den Kürzeren gezogen habe. Er hatte keine andre Waffe, als seinen Haß. Diese beschloß er im Gefängniß möglichst scharf zu machen und sie mitzunehmen, wenn er in die Welt hinausgehen würde.
In Toulon gab es eine, von den Ignorantinern gehaltne Schule, wo den Sträflingen, die sich freiwillig dazu meldeten, das Notwendigste gelehrt wurde. Jean Valjean nahm an diesem Unterricht theil, und lernte im Alter von vierzig Jahren lesen, schreiben und rechnen. Er hatte die Empfindung, daß eine Stärkung seines Verstandes auch seinen Haß stärken würde. Bildung und Klugheit eignen sich nicht blos zur Förderung des Guten, sondern machen auch das Böse mächtiger.
Leider richtete Jean Valjean nicht nur die Gesellschaft, die schuld an seinem Unglück war; er richtete und verurtheilte auch die Vorsehung, die die Gesellschaft geschaffen.
Auf diese Weise schritt er während seiner neunzehnjährigen Qual und Sklaverei auf dem Wege der Erkenntnis sowohl vorwärts, als auch rückwärts. Auf der einen Seite drang Licht, auf der andern Finsternis in seine Seele.
Jean Valjean, haben wir gesagt, war von Natur nicht schlecht. Als er ins Gefängniß kam, wer er noch gut. Er verurtheilte hier die Gesellschaft und fühlte, daß er bösartig, er verurtheilte die Vorsehung und fühlte, daß er gottlos wurde.
An dieser Stelle ist es schwer, einige Fragen, die sich mit Gewalt vordrängen, zurückzuweisen.
Aendert sich die menschliche Natur so vollständig und von Grund aus? Kann der Mensch, ein Geschöpf Gottes, СКАЧАТЬ