Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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Der Fremde wurde muntrer, während er aß. Mein Bruder schenkte ihm guten Mauves ein, von dem er selber nicht trinkt, weil es ein theurer Wein ist. Mein Bruder zeigte im Gespräche die Ihnen wohlbekannte Unbefangenheit und frohe Laune und richtete auch manche freundlichen Bemerkungen an mich. Auf die Beschäftigung des Käsers kam er oft zurück, als wollte er ihm aus zarte Weise zu verstehen geben, daß er sich so aus seiner Nothlage befreien könne. Eins ist mir noch aufgefallen. Ich habe Ihnen auseinandergesetzt, was das für ein Mensch war. Nun also, mein Bruder hat weder bei Tische noch überhaupt an dem ganzen Abend, mit alleiniger Ausnahme der Erwähnung Jesu Christi bei der Ankunft des Gastes, kein Wort fallen lassen, das den Mann erinnert hätte, wer er war, und ihn über den Stand meines Bruders belehrt hätte. Und es war doch eine schöne Gelegenheit, ein wenig Moral zu predigen und den Zuchthäusler seine bischöfliche Autorität nachdrücklichst fühlen zu lassen. Ein Andrer, der den Unglücklichen so in der Hand gehalten hätte, würde nicht blos getrachtet haben, ihm Nahrung für den Körper, sondern auch für die Seele zu spenden und hätte es für angemessen erachtet, ihm mit guten Rathschlägen und Ermahnungen gemilderte Vorwürfe zu machen oder hätte eine Aeußerung des Mitleids nebst einer Aufforderung sich fortan besser aufzuführen, fallen lassen. Mein Bruder dagegen fragte den Menschen nicht einmal nach seinem Geburtsorte oder seiner Lebensgeschichte. Denn seine Lebensgeschichte enthielt auch die Geschichte seines Vergehens, und mein Bruder ließ es sich offenbar angelegen sein, alles zu vermeiden, das Jenen an seine Schuld hätte erinnern können. Einmal sogar, als er von den Gebirglern bei Pontarlier sprach, deren Wohnungen dem Himmel nahe wären, die, weil schlicht und rechtschaffen, auch glücklich seien, brach er plötzlich seine Rede ab, aus Furcht, die ihm entschlüpfte Aeußerung könne seinem Gaste wehe thun. Ich habe hierüber gründlich nachgedacht und glaube jetzt zu verstehen, was in dem Herzen meines Bruders vorging. Er meinte offenbar, den Unglücklichen quäle der Gedanke an sein Elend auch ohnehin genug; es schien ihm geboten, ihm den Kummer zu verscheuchen, indem er ihn auf dieselbe Weise behandelte wie jeden Andern und ihn – wenn auch nur für einen Augenblick – in den Glauben wiegte, er wäre eben solch ein Mensch wie jeder Andre. Heißt das nicht die Pflicht der christlichen Liebe richtig verstehen, wenn man sich zartsinnig aller Moralpredigten und Anspielungen enthält und den wunden Punkt überhaupt nicht berührt? Dies war, dünkt mich, die Idee, von der sich mein Bruder leiten ließ. Allerdings hat er sich nichts merken lassen, auch mir gegenüber nicht. Er war durchaus derselbe, wie an jedem andern Abend und benahm sich Jean Valjean gegenüber ganz ebenso, als hätte er Hrn. Gédéon Le Prévost oder einen Landpfarrer zu Gaste gehabt.
Zu Ende der Mahlzeit, als wir eben die Feigen verspeisten, klopfte es an die Thür. Es war Mutter Gerbaud mit ihrem Kinde auf dem Arm. Mein Bruder küßte den Kleinen auf die Stirn und lieh sich von mir fünfzehn Sous, die ich gerade bei mir hatte, um sie Mutter Gerbaud zu geben. Der Fremde achtete auf alles dieses nicht. Er sprach nicht mehr und schien recht abgespannt zu sein. Dann sagte mein Bruder, nachdem die arme, alte Gerbaud fortgegangen, das Dankgebet und wandte sich zu dem Gast mit den Worten: »Sie sehnen sich gewiß nach Ihrem Bett.« Frau Magloire deckte rasch ab und ich begriff, daß wir uns nach oben verfügen mußten, um ihn schlafen zu lassen. Indessen schickte ich Frau Magloire noch einmal hinunter mit einem Rehfell, das sie ihm auf sein Bett legte. Die Nächte sind eisig, und solch ein Fell hält warm. Schade, daß es so alt ist, die ganzen Haare fallen schon aus. Mein Bruder hat es zu der Zeit gekauft, wo er in Deutschland war, in Tottlingen, in der Nähe der Donauquellen, sowie auch das kleine Messer mit dem Elfenbeingriff, dessen ich mich bei Tische bediene.
Frau Magloire kam sofort wieder herauf, wir beteten in dem Zimmer, wo die Wäsche getrocknet wird und zogen uns dann, ohne ein Wort zu sprechen, jede in ihre Kammer zurück.
V. Furchtlose Seelenruhe
Nachdem der Bischof seiner Schwester eine gute Nacht gewünscht, nahm er von dem Tische einen der beiden silbernen Leuchter, gab den andern seinem Gaste und sagte:
»Herr Valjean, ich werde Sie jetzt nach Ihrem Schlafzimmer geleiten.«
Der Fremde folgte ihm.
Wie schon bemerkt, waren die Räume so eingerichtet, daß man, um in das Betzimmer und den Alkoven zu gelangen, durch das Schlafzimmer des Bischofs hindurch mußte.
Als sie durch dieses Zimmer gingen, war Frau Magloire gerade im Begriff, das Silberzeug in dem, am Kopfende des Bettes befindlichen Wandschrank zu verschließen. Das war das Letzte, was ihr jeden Abend vor dem Schlafengehn zu thun oblag.
Der Bischof führte seinen Gast in den Alkoven, wo ein frisch bezogenes Bett bereit stand. Der Fremde stellte seinen Leuchter auf ein Tischchen.
»Nun schlafen Sie wohl,« sagte der Bischof. »Morgen früh, bevor Sie aufbrechen, sollen Sie noch eine Tasse ganz frische Milch bekommen.«
»Danke, Herr Abt,« erwiderte der Gast.
Kaum hatte er diese friedfertigen Worte ausgesprochen, als ihn plötzlich und ohne Uebergang eine sonderbare Regung anwandelte, welche die beiden frommen Frauen, wären sie zugegen gewesen, mit eisigem Schreck erfüllt hätte. Noch heute wird es uns schwer, uns Rechenschaft davon zu geben, was in jenem Augenblick in ihm vorging. Wollte er eine Warnung aussprechen, oder eine Drohung ausstoßen? Gehorchte er nur einem ihm unbewußten Triebe, den er selbst nicht verstand? Er wandte sich plötzlich um, verschränkte die Arme, betrachtete seinen greisen Wirt mit wilden Blicken und schrie mit rauher Stimme:
»Nanu, Sie geben mir wirklich ein Zimmer in Ihrem Hause, so dicht neben Ihrem?«
Er hielt inne, schlug eine laute Lache auf, die sich grausig anhörte und fuhr fort:
»Haben Sie Sich die Sache auch ordentlich überlegt? Woher wissen Sie, ob ich nicht vielleicht ein Raubmörder bin?«
Der Bischof antwortete:
»Das ist eine Sache, die den lieben Gott allein angeht.«
Damit hob er feierlich und indem er die Lippen, wie zum Gebet oder Selbstgespräch, bewegte, zwei Finger der rechten Hand empor, segnete den Gast, der sich nicht neigte und begab sich, ohne sich umzuwenden und rückwärts zu blicken, in sein Zimmer.
Wenn der Alkoven einen Bewohner hatte, war der Altar mit einem groben Vorhang, der sich durch das ganze Betzimmer hindurch zog, verhangen. Vor diesen Vorhang kniete der Bischof nieder und verrichtete ein kurzes Gebet.
Einen Augenblick darauf spazierte er in seinem Garten, versunken in die Betrachtung jener erhabnen, unerforschbaren Herrlichkeiten, die Gott des Nachts den Augen der Wachenden enthüllt.
Was den Gast betrifft, so war er dermaßen übermüdet, daß er nicht einmal Gebrauch machte von den frischen reinen Laken. Er blies nach Art der Zuchthäusler das Licht mit der Nase aus und sank vollständig angekleidet auf das Bett nieder, wo er sofort fest einschlief.
Es schlug Mitternacht, als der Bischof aus dem Garten in sein Schlafzimmer zurückkehrte.
Einige Minuten nachher schlief alles in dem Hause.
VI. Jean Valjean
Um die Mitte der Nacht erwachte Jean Valjean.
Jean Valjean entstammte einer Bauernfamilie der Provinz La Brie. In seiner Kindheit hatte er nicht lesen gelernt. Als er das Mannesalter erreicht hatte, war er Baumputzer in Faverolles. Seine Mutter hieß Jeanne Mathieu, sein Vater Jean Valjean oder Valjean.
Jean Valjean war, wie dies СКАЧАТЬ