Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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An diesem Abend arbeitete er noch fleißig um acht Uhr und schrieb, ein großes offenes Buch über den Knieen, in unbequemer Haltung auf kleinen Zetteln, als Frau Magloire hereinkam, das Silbergeschirr aus dem Wandschrank zu holen. Ein Weilchen nachher, als er merkte, daß der Tisch gedeckt war und seine Schwester vielleicht auf ihn wartete, klappte er sein Buch zu, stand vom Tische auf und begab sich in das Speisezimmer.
Es war dies ein rechteckiger Raum mit Kamin, Eingangsthür nach der Straße zu und einem Fenster, das auf den Garten hinausging.
Frau Magloire hatte in der That schon gedeckt und plauderte, während sie im Zimmer hantierte, mit Fräulein Baptistine.
Auf dem Tische, der sich nahe dem Kamin befand, stand eine Lampe und in dem Kamin brannte ein leidlich gutes Feuer.
Man kann sich leicht eine Vorstellung machen von den beiden Frauen, die beide sechzig Jahre hinter sich hatten: Frau Magloire klein, gut beleibt, lebhaft; Fräulein Baptistine sanft, hager, schwächlich, etwas größer, als ihr Bruder, in einer Robe von flohfarbener Seide, wie es 1806 Mode war, die sie damals in Paris gekauft hatte, und die immer noch vorhielt. Um uns einer volksthümlichen Redewendung zu bedienen, – die aber trotz ihrer Kürze inhaltsvoller ist, als eine seitenlange Beschreibung, – so hatte Frau Magloire das Aussehen einer Bäuerin und Fräulein Baptistine das einer Dame. Frau Magloire trug eine in Röhrenfalten gelegte weiße Haube, um den Hals ein Sammetband mit einem goldnen Kreuz, auf dem ein Herz lag, dem einzigen Frauenjuwel übrigens, das sich im Hause befand. Bekleidet war sie mit einem schneeweißen Brusttuch, einem Kleide aus grobem schwarzen Wollstoff mit weiten kurzen Aermeln, einer roth und grün karrirten Kattunschürze, die mit einem grünen Bande um die Taille gebunden war, und deren gleichartiger Latz an den oberen Ecken durch zwei Stecknadeln festgehalten wurde. Dazu an den Füßen grobe Schuhe und gelbe Strümpfe, wie sie von den Frauen in Marseille getragen wurden. Fräulein Baptistines Robe war nach Mustern aus dem Jahre 1806 zugeschnitten; mit kurzer Taille, engem Rock, Achselbändern, Patten und Knöpfen. Ihre grauen Haare verbarg sie unter einer Kräuselperrücke à l'enfant. Frau Magloires Gesichtszüge ließen auf Klugheit, Lebhaftigkeit und Herzensgüte schließen; nach den ungleich aufgezogenen Mundwinkeln und nach der Oberlippe, die dicker war als die untere, zu urtheilen, mußte sie brummig und rechthaberisch sein. In der That führte sie Sr. Bischöflichen Gnaden gegenüber, wenn Dieselben schwiegen, eine bei allem Respekt freimüthige Sprache; aber sobald Sr. Gnaden das Wort ergriffen, gehorchte sie, wie wir schon oben gesehen haben, so passiv wie ihr gnädiges Fräulein. Fräulein Baptistine, that dann nicht einmal den Mund auf. Sie beschränkte sich darauf, zu gehorchen und ihrem Bruder zu Gefallen zu handeln. Auch in ihrer Jugend war sie nicht hübsch gewesen. Sie hatte große, blaue, hervorstehende Augen und eine lange, gebogene Nase; aber ihr ganzes Antlitz, ihr ganzes Wesen athmete eine unbeschreibliche Güte. Von jeher sanftmüthig veranlagt, hatte sie sich durch herzerwärmende Tugenden des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung allmählich zur Heiligen vervollkommnet. Von Natur nur ein Lamm, hatte die Religion sie zu einem Engel gemacht. Armes frommes Fräulein! Welche theure Erinnerungen weckt Dein sanftes Bild in dem Gedächtniß Derer, die Dich kannten!
Was sich nun an jenem Abend in dem Hause des Bischofs Alles ereignete, hat Fräulein Baptistine so oft erzählt, daß sich mehrere Leute, die noch heute leben, an alles bis auf die geringfügigsten Einzelheiten, genau erinnern können.
Frau Magloire sprach, als der Bischof in das Speisezimmer trat, mit großer Lebhaftigkeit über ihr Lieblingsthema, das ihr Herr geduldig über sich ergehen zu lassen pflegte, nämlich über die Klinke der Straßenthür.
Sie hatte während sie Einkäufe für das Abendessen besorgte, gar schlimme Neuigkeiten gehört. Es hieß ein Strolch, ein gefährlicher Landstreicher sei angekommen und treibe sich gegenwärtig in der Stadt herum, und wer heute Abend spät nach Hause komme, dem könne leicht etwas Unangenehmes begegnen. Die Polizei thue leider ihre Schuldigkeit nicht, indem der Herr Präfekt und der Herr Bürgermeister keine Freundschaft hielten und es gerne sähen, wenn ein Unglück passiere. Das würde ihnen eine prächtige Gelegenheit geben, den Andern als den schuldigen Teil hinzustellen. Die gescheidten Leute sollten also hübsch selber über ihre Sicherheit wachen. Selbstredend müsse ein Jeder sein Haus verschließen, verriegeln, verrammeln und ja die Thüren ordentlich zumachen.
Frau Magloire betonte das Wort Thüren mit großem Nachdruck; aber der Bischof, den in seinem ungeheizten Zimmer gefroren hatte, saß vor dem Kamin, und wärmte sich; abgesehen hiervon hing er noch andern Gedanken nach. Er beachtete also Frau Magloires energischen Wink nicht besonders, und sie sah sich genötigt, ihn zu wiederholen. Da mischte sich Fräulein Baptistine in das Gespräch und fragte, um es Frau Magloire recht zu machen, ihrem Bruder aber nicht zu mißfallen:
»Lieber Bruder, hast Du gehört, was Frau Magloire erzählt?«
»Zum Theil, ja!« antwortete er, drehte seinen Stuhl halb um, hielt die Hände auf die Kniee und wandte sein freundliches, gemüthlich heiteres Gesicht, das von unten durch den Lichtschein des Kaminfeuers hell beleuchtet war, der alten Magd zu. »Nun, erzählen Sie! Was geht denn vor? Was denn? Wir schweben also wirklich in einer furchtbaren Gefahr?«
Frau Magloire begann ihre ganze Geschichte von vorn, wobei sie, ohne sich dessen bewußt zu werden, die Farben recht stark auftrug. Es solle sich zur Zeit ein Bummler, ein zerlumpter Kerl, ein gefährlicher Bettler in der Stadt aufhalten. Er hätte bei Jacquin Labarre nächtigen wollen, der aber hätte ihn abgewiesen. Dann sei er auf dem Boulevard Gassendi gesehen worden und dann habe er in den Straßen herum gestrolcht. Ein Kerl mit einem wahren Galgengesicht!
»Was Sie sagen!« meinte der Bischof.
Daß er so bereitwillig auf ihr Gespräch einging, ermuthigte Frau Magloire. Deutete sie sich dies doch als ein Zeichen, daß er anfing, Furcht zu bekommen. Sie fuhr also triumphirend fort:
»Ja, ja. Bischöfliche Gnaden, so steht's. Diese Nacht passirt ganz gewiß ein Unglück in der Stadt. Jeder sagt das. Leider thut die Polizei ihre Schuldigkeit nicht. (Diese Wiederholung, um einen wirksamern Eindruck zu machen.) Ein Gebirgsland, und nicht einmal des Nachts Laternen in den Straßen! Geht man aus, so umgiebt Einen eine Finsterniß, als stäke man in einem Sack. Und ich, Bischöfliche Gnaden, behaupte, und das gnädige Fräulein behauptet auch ...«
»Ich behaupte gar nichts«, fiel ihr das Fräulein ins Wort. »Was mein Bruder thut, ist wohlgethan.«
Aber Frau Magloire beachtete nicht den erhobenen Einspruch.
»Wir behaupten also, daß dieses Haus ganz und gar nicht sicher ist, und wenn Bischöfliche Gnaden erlauben, hole ich den Schlosser, Paulin Musebois, und lasse ihn die alten Riegel wieder an der Thür anbringen. Sie sind noch da, und die Arbeit ist im Handumdrehen gemacht. Riegel brauchen wir, wäre es auch nur für diese Nacht. Denn eine Thür, die der erste Beste von außen aufklinken kann, nein, so was schreckliches giebt's nicht mehr. Dabei haben Bischöfliche Gnaden die Gewohnheit und rufen immer gleich: Herein! Und in der Nacht – Herr, erbarme Dich! braucht auch Keiner erst um Erlaubnis zu bitten.«
In demselben Augenblicke wurde heftig an die Thür geklopft.
»Herein!« rief der Bischof.
III. Heldenmüthiger Gehorsam
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