Название: Stille Nacht
Автор: Johann Widmer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754908129
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Würde auch nicht viel bringen, denn es war ihm unmöglich, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, das nichts mit seiner gegenwärtigen Lage zu tun hatte.
Aber er konnte und wollte nicht den ganzen Abend heulend seinen trüben Gedanken nachhängen, er durfte nicht länger in seinen vier Wänden versauern, sonst würde er noch durchdrehen.
Er nahm abwechselnd einen Schluck Bier und dann einen tüchtigen Schluck Grappa.
Das wärmte die Seele.
Doch was kann man an so einem verschissenen Abend überhaupt unternehmen? Kinos, Kneipen und Theater sind sicher geschlossen.
Es ist zum Verrücktwerden.
Er ging ans Fenster.
Am oberen Ende der Strasse flimmerte der riesige Weihnachtsbaum vor dem Kaufhaus. Nur wenige Leute waren unterwegs. Aus vielen Fenstern der gegenüberliegenden Häusern drang rötlichgelber Kerzenschein. Jetzt wurde gegessen, gesungen, musiziert und beschert.
Jedenfalls dort, wo Kinder waren.
Kinder.
Dass die beiden Jungen ihn als Vater abgelehnt hatten, dass sie zu ihrer Mutter hielten, gegen ihn, das hatte ihn am schwersten getroffen.
Am unmittelbarsten.
Was war denn geschehen? Warum hatte er nicht gemerkt, dass man sich entfremdet hatte?
Gut, er war vielleicht etwas streng mit ihnen gewesen, oder eben nicht? Hatte er nicht alles getan, damit sie eine glückliche Kindheit erleben durften?
Er hatte sie nie geschlagen, alle Probleme wurden mit Vernunft und Einsicht gelöst.
Gemeinsame Wanderungen an den Sonntagen, gemeinsamer Skiurlaub im Winter, sommers en famille am Meer oder in den Bergen, viel wurde auch für die Bildung getan, er kontrollierte die Hausaufgaben, sie bekamen Musikunterricht, Nachhilfestunden in Latein...ach was!
Manche Dinge lassen sich nun mal nicht erklären.
Mangelnde Vaterliebe?
Er hatte sie tatsächlich geliebt, seine beiden Söhne, keine Affenliebe, nein, er hatte auch versucht, zu ihnen ein kameradschaftliches Verhältnis aufzubauen als sie grösser geworden waren...aber was soll das Ganze?
Es war unerklärlich.
Er konnte sich nicht vorstellen, wie es zu diesem plötzlichen Bruch gekommen war, es gab da kein Ereignis, das die Haltung seiner Söhne erklärbar gemacht hätte.
Dass ihn seine Arbeit zeitweise aufgefressen hatte, da konnte er nichts dagegen tun, er brauchte das Geld der vielen Überstunden für die immer teurer werdenden Wünsche der Familie.
Die Brotkrümel wurden zu länglichen Würstchen geformt, draussen wehte der Wind, Regen klatschte an die Scheiben. Regen.
Kein weihnächtliches Schneegestöber, hier fällt Dreck vom Himmel.
Er stand auf und goss den Rest des Bieres in den Ausguss. Dieses fade Gesöff widerte ihn an.
Oder schmeckte es ihm nicht, weil er schlecht gelaunt war? Was hiess da schon schlecht gelaunt? Seine Stimmung hatte nichts mehr mit Laune zu tun, das war die Apokalypse, sein höchst persönlicher Weltuntergang. Sollte er nun deswegen herumtoben und brüllen?
Das hatte er nie gekonnt, er fand solches Benehmen seiner selbst nicht würdig.
Scheisswürde!
Hätte er doch mal gebrüllt, auf den Tisch gehauen und seine Meinung gesagt, statt immer nur alles still in sich hineinzufressen.
Damals zum Beispiel, als die erste Krise ausgebrochen war.
Hätte er vielleicht den Gang der Dinge ändern können, wenn er damals Isabellas Freundinnen, diese verdammten Klatschbasen, hinausgeschmissen hätte.
Ja, damals hatte es eigentlich begonnen, als jene verrückten Hühner mit ihren emanzipatorischen Spleens im Haus aus und ein gingen. Sie hatten seiner Frau völlig den Kopf verdreht und er, er liess alles geschehen.
Er schwieg, er zeigte sich grosszügig, tolerant und aufgeschlossen.
Selbstverwirklichung.
Er kaufte ihr das Auto, er war einverstanden, dass sie von nun an getrennt in den Urlaub fuhren, er half ihr ihre Boutique einzurichten, er bezahlte die chronischen Defizite ihres Unternehmens, er machte am Feierabend die Hausarbeit, sogar das Geschirrspülen musste er seinen zwei Söhnen abnehmen, da sie nun eine höhere Schule besuchten, er machte alles, ohne zu murren, da es scheinbar heute so gemacht wird.
Er tat noch vieles dem Frieden zuliebe.
Allzu vieles.
Er stürzte sich in seine Arbeit, machte noch mehr Überstunden, kam spät nach Hause, todmüde, und versagte im Bett.
Er begann zu saufen, heimlich.
Er wurde der hörige Sklave seiner Frau.
Der Eunuch.
Er hatte sich wie ein Trottel benommen. Er hatte sich zum Waschlappen gemacht.
Aber diese späte Einsicht brachte auch nicht mehr viel.
Es war nun zu spät.
Auch zum Brüllen und Toben. Er war nicht der Typ des Amokläufers, aber auch so richtig heulen konnte er nicht, nur dahocken und grübeln konnte er und dabei versauern.
Das Leben ging weiter, er musste wieder auf den Zug aufspringen, sonst geriet er leicht unter die Räder.
Aber wozu?
Das falsche Spiel von Liebe und Treue und Familie und den lieben Kinderchen, Arbeiten, Schuften bis zum Gehtnichtmehr und was weiss der Teufel was, das alles nochmals durchspielen? Es wäre auch diesmal wieder ein völlig sinnloses Unterfangen geworden.
Er hatte jämmerlich versagt und würde es auch ein weiteres Mal tun. Immer wieder, denn Versager sind Serientäter.
Er lachte bitter, schmiss die Grappaflasche an die Wand und ging wieder zum Fenster.
Es hatte aufgehört zu regnen, dafür wogte jetzt ein dicker Nebel durch die Strassenschlucht.
Nebel. Das passte ihm in seiner neblig trüben Stimmung. Er würde ausgehen. Eine lange Wanderung durch die Nebelnacht machen, bis ans Ende der Welt, bis ans Ende seiner Tage gehen, immer weiter gehen.
Bis zu den ersten Villen der noblen Vorstadt war ihm kein Mensch begegnet. Es war, als ob die Menschheit auf diesem Planeten nicht mehr existieren würde.
Wäre auch nicht schade, fand er. Aber hier war es plötzlich mit der grossen Stille vorbei, denn hinter jedem Gartenzaun lauerte ein böse bellender Hund. In diesem Viertel regiert die Angst. Die Angst, es könnte einer kommen um etwas vom Überfluss, der hier herrschte, wegzutragen.
Da er zu СКАЧАТЬ