»Und was tat die Gesellschaft für ihn?« fragte ich darauf.
»Nichts. Ach ja, doch, etwas tat sie. Sie führte den Prozeß, den Jackson nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus auf Schadenersatz anstrengte, erfolgreich durch. Die Gesellschaft beschäftigt sehr tüchtige Rechtsanwälte, wissen Sie.«
»Sie haben nicht alles erzählt«, sagte ich mit Überzeugung. »Oder Sie wissen nicht alles. Vielleicht war der Mann unverschämt.«
»Unverschämt! Ha! Ha!« Sein Lachen war teuflisch. »Du lieber Gott, unverschämt! Mit seinem verstümmelten Arm! Trotz allem war er demütig und bescheiden und dachte gar nicht daran, unverschämt zu sein.«
»Aber das Gericht«, drängte ich. »Der Prozeß wäre doch nicht zu seinen Ungunsten entschieden worden, wenn nicht noch etwas gewesen wäre, das Sie nicht erwähnt haben.«
»Der erste Anwalt der Gesellschaft ist Ingram, ein scharfsinniger Jurist.« Ernst sah mich einen Augenblick gespannt an, dann fuhr er fort: »Ich will Ihnen etwas sagen, Fräulein Cunningham. Untersuchen Sie den Fall Jackson.«
»Das hatte ich mir sowieso vorgenommen«, sagte ich kühl.
»Schön«, meinte er freundlich. »Und ich will Ihnen sagen, wo Sie den Mann finden können. Aber ich zittere für Sie, wenn ich daran denke, was Sie durch Jacksons Arm erfahren werden.«
Und so kam es, daß sowohl der Bischof wie ich auf den Vorschlag Ernsts eingingen. Die beiden entfernten sich und ließen mich allein mit dem schmerzlichen Gefühl eines Unrechts, das mir und meiner Klasse angetan war. Dieser Mann war ein wildes Tier. Ich haßte ihn und tröstete mich nur mit dem Gedanken, daß man eben von einem Angehörigen der arbeitenden Klasse kein anderes Benehmen erwarten konnte.
Jacksons Arm
Ich ließ mir nicht träumen, welch verhängnisvolle Rolle Jacksons Arm in meinem Leben spielen sollte. Jackson selbst machte, als ich ihn aufsuchte, keinen besonders starken Eindruck auf mich. Ich fand ihn in einem wackligen, baufälligen Dieses Wort bezeichnet den Zustand halb zerstörter und verfallener Häuser, in denen große Massen der arbeitenden Bevölkerung in jenen Tagen Unterkunft fanden. Sie zahlten den Grundbesitzern feste und im Verhältnis zum Werte solcher Häuser ungeheure Abgaben. Hause, dicht an der Bucht, am Rande des Sumpfes. Rings um das Haus waren Tümpel stagnierenden Wassers, dessen Oberfläche von grünem fauligen Schlamm bedeckt war, und aus denen ein unerträglicher Gestank aufstieg.
Ich fand Jackson so demütig und bescheiden, wie Ernst ihn geschildert hatte. Er war mit der Herstellung eines Rohrgeflechts beschäftigt und arbeitete stumpf weiter, während ich mit ihm sprach. Aber trotz seiner Demut und Bescheidenheit glaubte ich in ihm das erste Anzeichen einer keimenden Erbitterung zu entdecken, als er sagte:
»Man hätte mich aber doch wenigstens als Wächter In jenen Tagen war Diebstahl ungeheuer verbreitet. Jeder stahl vom andern. Die Herren der Gesellschaft stahlen legal, die ärmere Klasse illegal. Nichts war sicher, wenn es nicht bewacht wurde. Riesige Menschenmassen waren als Wächter zum Schutze des Eigentums angestellt. Die Häuser der Wohlhabenden waren eine Kombination von Banksafe und Festung. Die Aneignung der persönlichen Besitzgegenstände anderer durch unsere Kinder in heutiger Zeit ist als ein rudimentäres Überbleibsel des Stehldranges anzusehen, der in jenen frühen Zeiten allgemein war. einstellen sollen.«
Ich bekam nur wenig aus ihm heraus. Er machte den Eindruck eines Stumpfsinnigen, und doch schien die Gewandtheit, mit der er mit seiner einen Hand arbeitete, seinen Stumpfsinn Lügen zu strafen. Das brachte mich auf einen Gedanken.
»Wie kam es, daß Ihr Arm in die Maschine geriet?«
Er warf mir einen langen, forschenden Blick zu und schüttelte dann den Kopf.
»Ich weiß nicht. Es ist eben passiert.«
»Fahrlässigkeit?« fragte ich.
»Nein«, antwortete er. »So kann man es nicht nennen. Ich machte Überstunden und war, glaube ich, etwas übermüdet. In den siebzehn Jahren, die ich in der Spinnerei arbeite, habe ich bemerkt, daß die meisten Unglücksfälle gerade vor Arbeitsschluß Den Arbeitern wurden Beginn und Schluß der Arbeit durch das wilde, nervenzerreißende Kreischen von Dampfpfeifen angezeigt. vorkommen. Ich möchte wetten, daß in der letzten Arbeitsstunde mehr Unfälle vorkommen als während der ganzen übrigen des Tages. Wenn der Mensch stundenlang anstrengend gearbeitet hat, ist er nicht mehr so gewandt. Ich habe zuviele zerlöchert und zerrissen und bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt gesehen.«
»Viele?« forschte ich.
»Hunderte und Aberhunderte, auch Kinder.«
Bis auf die schrecklichen Einzelheiten stimmte seine Beschreibung des Unfalls mit der überein, die ich bereits vernommen hatte. Als ich ihn fragte, ob er vielleicht eine der Bedienungsvorschriften der Maschine außer Acht gelassen hätte, schüttelte er den Kopf.
»Ich riß mit der rechten Hand den Treibriemen ab«, sagte er, »und griff mit der Linken nach dem Steinchen. Ich hielt nicht an, um nachzusehen, ob der Treibriemen wirklich ab wäre. Ich dachte, meine rechte Hand hätte es getan – aber das war nicht der Fall. Ich griff schnell hin, aber der Riemen war nicht ganz herunter, und da wurde mir der Arm abgerissen.«
»Es muß sehr geschmerzt haben«, sagte ich mitleidig.
»Das Krachen der Knochen war nicht schön«, lautete seine Antwort.
Über seinen Prozeß war er sich noch nicht ganz klar. Nur soviel wußte er, daß er keinen Schadenersatz erhalten hatte. Er hatte das Gefühl, daß die Aussagen des Direktors und des Werkmeisters die ungünstige Entscheidung des Gerichts herbeigeführt hatten. Ihre Aussagen, wie er sie hinstellte, »waren nicht, wie sie hätten sein sollen«. Und ich beschloß, diese Zeugen aufzusuchen.
Eines war klar, die Lage Jacksons war erbärmlich. Seine Frau war leidend, und er selbst konnte durch das Rohrflechten und Hausieren den Lebensunterhalt für seine Familie nicht verdienen. Er war mit der Miete im Rückstand, und sein ältestes Kind, ein Junge von elf Jahren, hatte jetzt angefangen, in der Spinnerei zu arbeiten.
»Sie hätten mich als Wächter einstellen sollen«, waren seine letzten Worte, als ich ging.
Als ich dann den Anwalt, der Jackson vertreten, sowie die beiden Werkführer und den Generaldirektor der Spinnerei, die in dem Prozeß ausgesagt, gesprochen hatte, begann ich zu fühlen, daß in dem, was Ernst behauptete, etwas Wahres steckte.
Der Anwalt machte den Eindruck eines energielosen, unfähigen Menschen, und bei seinem Anblick wunderte ich mich nicht, daß Jackson seinen Prozeß verloren hatte. Mein erster Gedanke war, daß Jackson Recht geschehen war, weil er sich einen solchen Anwalt genommen hatte. Im nächsten Augenblick aber kamen mir plötzlich zwei Behauptungen von Ernst zum Bewußtsein: »Die Gesellschaft beschäftigt sehr tüchtige Rechtsanwälte« und »Ingram ist ein scharfsinniger Jurist.« Ich überlegte schnell. Es wurde mir klar, daß die Gesellschaft sich natürlich bessere Juristen leisten konnte als ein Arbeiter wie Jackson. Aber das war das wenigste. Es mußte unbedingt einen Grund haben, daß der Prozeß ungünstig für Jackson ausgefallen war. »Warum haben Sie den Prozeß verloren?« fragte ich. Der Anwalt war bestürzt und sah mich einen Augenblick zerquält an, und ich empfand Mitleid mit dem armseligen Menschen. Dann begann er zu jammern. Ich glaube, das Jammern war ihm angeboren. Er jammerte über die Zeugenaussagen. Sie wären alle zugunsten der Gegenpartei ausgefallen. СКАЧАТЬ