Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London
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Название: Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe

Автор: Jack London

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783754173213

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СКАЧАТЬ eine gute Idee, wenn du einen Freund auftreiben könntest… für sie« (sie zeigte auf ihre Freundin), »dann könnten wir Eis essen oder eine Tasse Kaffee trinken gehen.«

      Ein plötzliches Gefühl seelischer Übelkeit überkam ihn. Der Übergang von Ruth zu diesem hier war zu plötzlich gewesen. Neben den kecken, spöttischen Augen des jungen Mädchens sah er die klaren, strahlenden Ruths, Augen wie die einer Heiligen, die ihn aus unlotbaren Tiefen von Reinheit anblickten. Und plötzlich hatte er ein Gefühl von Macht. Er war besser als die andern. Das Leben bedeutete ihm mehr als diesen beiden jungen Mädchen, die nicht weiter dachten als bis zu einem Eis und einem »Freund«. Er erinnerte sich, daß er in Gedanken stets ein geheimes Leben gelebt hatte. Er hatte versucht, seine Gedanken mit andern zu teilen, aber noch nie hatte er eine Frau gefunden, die imstande gewesen war, ihn zu verstehen – und auch nie einen Mann. Er hatte es zuweilen versucht, hatte aber dabei seine Zuhörer nur verwirrt. Und da seine Gedanken höher flogen als die ihrigen, so argumentierte er jetzt, müßte er auch höher stehen als sie. Er fühlte Macht in sich und ballte die Fäuste. Wenn das Leben ihm mehr bedeutete, dann durfte er auch mehr vom Leben fordern; aber eine Gesellschaft wie diese konnte ihm nicht mehr geben. Diese dreisten, schwarzen Augen hatten nichts zu bieten. Er kannte die Gedanken, die hinter ihnen lagen – Gedanken an Eiskrem und etwas mehr. Aber die heiligen Augen neben ihnen – die boten ihm alles, was er kannte, und mehr als er ahnen konnte. Sie boten ihm Bücher und Gemälde, Schönheit und Ruhe und die ganze Feinheit und Auserlesenheit eines höheren Daseins. Er kannte jeden Gedankengang hinter den schwarzen Augen. Das war wie ein Uhrwerk. Er konnte alle Räder sich drehen sehen. Was sie ihm boten, waren niedrige Genüsse, eng wie das Grab, Genüsse, die man satt bekam; und das Ende von allem war das Grab. Was aber die heiligen Augen ihm boten, war Mysterium, war das unergründliche Wunder und das ewige Leben. Er hatte einen Schimmer ihrer Seele darin gesehen, und dazu einen Schimmer seiner eigenen Seele.

      »Das Problem hat nur einen Haken«, sagte er laut. »Ich hab heute schon eine Verabredung.«

      Die Augen des Mädchens zeigten ihre Enttäuschung.

      »Wohl bei einem kranken Freund wachen, was?« spottete sie.

      »Nein, eine wirkliche Verabredung mit – «, er stotterte, »mit einem Mädchen.«

      »Du führst mich nicht an?« fragte sie ernst.

      Er sah ihr in die Augen und antwortete. »Es stimmt schon. Aber warum können wir uns nicht ein andermal treffen? Du hast mir noch nicht gesagt, wie du heißt und wo du wohnst.«

      »Lizzie«, erwiderte sie, sofort besänftigt, und ihre Hand preßte seinen Arm, während sie sich an ihn lehnte. »Lizzie Connolly. Und ich wohne an der Ecke der Fünften und der Market.«

      Er unterhielt sich noch einige Minuten mit den beiden und sagte ihnen dann gute Nacht. Er ging nicht gleich heim, sondern blieb unter dem Baum stehen, wo er so manche Nacht stand, und murmelte: »Die Verabredung war mit dir, Ruth. Um deinetwillen habe ich sie gehalten.«

      Siebentes Kapitel

      Eine Woche eifrigsten Lesens war vergangen, seit er Ruth Morse zum ersten Male gesehen hatte, und noch wagte er nicht, sie zu besuchen. Immer wieder sprach er sich Mut zu, dann aber erhoben sich wieder Zweifel und erstickten seine Entschlossenheit. Er kannte nicht die passende Besuchszeit, es gab keinen, der sie ihm sagte, und so fürchtete er, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen. Da er aber seine alten Gefährten und seine alte Lebensweise abgeschüttelt und keine neuen Gefährten gefunden hatte, konnte er nichts als lesen. Die langen Stunden, die er dieser Beschäftigung opferte, hätten ein Dutzend Paar gewöhnlicher Augen verdorben. Aber seine Augen waren stark, und ein wunderbar kräftiger Körper half ihnen. Dazu war sein Geist aufnahmebereit. In bezug auf Bücherweisheit hatte er sein ganzes Leben brachgelegen, und jetzt war er reif zur Aussaat. Er, den noch nie ein Studium überanstrengt hatte, verbiß sich jetzt in das Wissen, das er in den Büchern fand, verbiß sich mit scharfen Zähnen, die nicht locker lassen wollten.

      Am Ende der Woche schien es ihm, als ob er Jahrhunderte gelebt hätte, so weit war er über sein altes Leben und seine alten Gesichtspunkte hinausgelangt. Er wurde jedoch durch seinen Mangel an Vorbildung genarrt. Er versuchte Bücher zu lesen, die ein jahrelanges Spezialstudium erfordert hätten. Den einen Tag las er ein Buch über alte Philosophie und am nächsten Tage ein hypermodernes, so daß ihm von dem Widerspruch und dem Streit der Ideen der Kopf wirbelte. Und ebenso ging es ihm mit der Nationalökonomie. Auf ein und demselben Regal in der Bibliothek fand er Karl Marx, Ricardo, Adam Smith und Mill, und die schwerverständlichen Formulierungen des einen ließen ihn nicht ahnen, daß die Vorstellungen des andern veraltet waren. Er war verwirrt und wollte dennoch Bescheid wissen. An einem einzigen Tage hatte ihn das Interesse für Ökonomie, Industrie und Politik gepackt. Auf dem Wege durch den Rathauspark hatte er eine Menschenansammlung bemerkt, in deren Mitte fünf oder sechs Männer standen, die mit roten Gesichtern laut und ernsthaft diskutierten. Er schloß sich den Zuhörern an und vernahm jetzt eine neue, fremde Sprache, wie diese Philosophen des Volkes sie redeten. Der eine war ein Vagabund, ein anderer ein Arbeiteragitator, ein dritter Student der Jurisprudenz, und die übrigen waren redegewandte Arbeiter. Zum ersten Male hörte er etwas von Sozialismus, Anarchismus und Einzelbesteuerung und erfuhr, daß es einander widersprechende sozialphilosophische Systeme gab. Er hörte Hunderte von technischen Ausdrücken, die ihm neu waren, weil sie Gedankengebieten angehörten, mit denen er bei seinem bißchen Lesen noch nicht in Berührung gekommen war. Daher konnte er den Beweisgründen nicht recht folgen und die Ideen nur ahnen und erraten, die in all diese fremden Ausdrücke verkleidet auftraten. Dann kam ein schwarzäugiger Kellner, der Theosoph, ein gewerkschaftlich organisierter Bäcker, der Agnostiker war, ein alter Mann, der sie alle mit der merkwürdigen Philosophie verspottete, daß alles, was ist, richtig ist, und ein anderer alter Mann, der endlos über Weltall, Vateratom und Mutteratom schwatzte.

      Martin Edens Kopf befand sich in einem Zustand völliger Verwirrung, als er nach mehreren Stunden den Park verließ und in die Bibliothek eilte, um die Bedeutung von einem Dutzend Fremdwörtern nachzuschlagen. Und als er die Bibliothek verließ, hatte er vier Bände unter dem Arm: Madame Blavatskys ›Geheimlehre‹, ›Fortschritt und Armut‹, ›Die Quintessenz des Sozialismus‹, und ›Krieg zwischen Religion und Wissen‹. Unglücklicherweise begann er mit der ›Geheimlehre‹; jede Zeile wimmelte von vielsilbigen Wörtern, die er nicht verstand. Er setzte sich im Bett auf und las mehr im Wörterbuch als in dem Werke selbst. So viele neue Wörter schlug er nach, daß er, wenn sie wieder auftauchten, ihre Bedeutung schon vergessen hatte und noch einmal nachschlagen mußte. Dann kam er auf den Einfall, die Bedeutung in ein Notizbuch niederzuschreiben, und er füllte Seite auf Seite damit. Aber den Sinn verstand er immer noch nicht. Er las bis drei Uhr morgens, und sein Hirn war ganz in Aufruhr, aber er hatte nicht einen einzigen tragenden Gedanken des Textes erfaßt. Er blickte auf, und es kam ihm vor, als ob die Stube sich hob und senkte wie ein Schiff im Sturm. Da schleuderte er die ›Geheimlehre‹ fluchend in die Ecke, drehte das Gas aus und legte sich schlafen. Mit den andern drei Büchern hatte er auch nicht viel mehr Glück. Nicht, daß sein Hirn schwach oder untauglich gewesen wäre, es hätte diese Gedanken gut fassen können, aber ihm fehlten die Übung im Denken und die Werkzeuge dazu. Er sah es selber ein und ging eine Zeitlang mit der Absicht um, nichts als das Wörterbuch zu lesen, bis er jedes Wort, das darin stand, auswendig wußte.

      Aber sein Trost war die Poesie. Und er las viel und fand die größte Freude an den einfacheren Dichtern, die am verständlichsten waren. Er liebte Schönheit, und hier fand er Schönheit. Poesie machte wie Musik einen tiefen Eindruck auf ihn, und obwohl er es selbst nicht wußte, bereitete er seinen Kopf dadurch für die mühseligere Arbeit vor, die kommen sollte. Sein Gehirn war wie ein Buch mit unbeschriebenen Seiten, viele der Dinge, die er las und die ihm gefielen, druckten sich ohne Anstrengung Strophe um Strophe auf diesen unbeschriebenen Seiten ab, und bald hatte er die große Freude, sich laut oder ganz leise all die Musik und Schönheit aufsagen zu können, die СКАЧАТЬ