Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London
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Название: Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe

Автор: Jack London

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783754173213

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СКАЧАТЬ abweisend. In alten Tagen hätte er zurückgelächelt und sie dadurch noch ermutigt. Jetzt aber war es anders. Er lächelte zwar, wandte aber den Kopf ab und sah absichtlich nicht mehr hin. Mehrmals jedoch, wenn er die beiden jungen Mädchen ganz vergessen hatte, wurde sein Blick von ihrem Lächeln gefangen. Er konnte sich weder an einem Tage verändern noch seine angeborene Gutmütigkeit vergewaltigen, und so lächelte er in diesen Augenblicken den beiden jungen Mädchen zu, nur aus reiner, warmer Menschenfreundlichkeit. Es war ihm nichts Neues. Er wußte, daß sie ihre Hände nach ihm ausstreckten. Aber jetzt war es etwas anderes. Unten im Parkett saß die Einzige in der ganzen Welt, so anders – so erschreckend anders – als diese beiden jungen Mädchen seiner eigenen Klasse, daß er für die nur Mitleid und Sorge fühlte. Er wünschte von Herzen, daß sie einen geringen Bruchteil IHRER Güte und Herrlichkeit erlangen könnten. Und um keinen Preis konnte er sie kränken, weil sie die Hände nach ihm ausstreckten. Er fühlte sich nicht dadurch geschmeichelt, im Gegenteil, eher ein wenig beschämt, daß seine eigene Niedrigkeit es ihnen erlaubte. Hätte er Ruths Kreisen angehört, so hätten diese jungen Mädchen, das wußte er, keine Annäherung versucht. Und bei jedem Blick, den sie ihm zuwarfen, war ihm, als ob die Hände seiner Klasse nach ihm griffen, um ihn niederzuhalten.

      Er verließ seinen Platz, ehe der Vorhang nach dem letzten Akt gefallen war, denn er wollte sie sehen, wenn sie herauskam. Es standen immer viele Männer vor dem Theater, und er brauchte nur die Mütze in die Stirn zu ziehen und sich hinter einem andern Mann zu verstecken, damit sie ihn nicht bemerkte. Er war einer der ersten, der das Theater verließ, aber kaum hatte er sich auf den Bürgersteig gestellt, als auch schon die beiden jungen Mädchen herauskamen. Er wußte gut, daß sie es auf ihn abgesehen hatten, und in diesem Augenblick hätte er seine Anziehungskraft auf Frauen verfluchen können. Er merkte, daß sie ihn gesehen hatten, denn sie gingen, gleichsam zufällig, schräg über die Straße, um in seine Nähe zu gelangen. Dann gingen sie langsamer, tauchten mitten im dichtesten Gewühl neben ihm auf, die eine von ihnen streifte ihn und tat, als ob sie ihn zum erstenmal bemerkte. Sie war ein schlankes, dunkles Mädchen mit schwarzen, spöttischen Augen. Doch ihm lächelten sie zu, und er lächelte zurück.

      »Hallo!« sagte er.

      Das geschah rein mechanisch; er hatte dasselbe so oft unter ähnlichen Umständen bei einer ersten Begegnung gesagt. Weniger konnte er ja auch nicht tun. Bei der großen Nachsicht und Freundlichkeit seines Wesens konnte er wirklich nicht weniger tun. Das schwarzäugige junge Mädchen lächelte heiter und einladend und machte Miene, stehenzubleiben, ebenso wie die kichernde Freundin, die Arm in Arm mit ihr ging. Er überlegte schnell. Es wäre nicht gut, wenn SIE jetzt herauskommen und ihn hier stehen und mit den beiden reden sehen würde. Als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, trat er neben die Dunkeläugige und ging mit ihr weiter. Hier kannte er keine Verlegenheit, kein benommenes Schweigen. Hier war er zu Hause, und er war ein Meister in dem schäkernden Geplauder voller Slang und Sticheleien, das stets der erste Schritt bei der Anknüpfung solcher schnell fortschreitenden Bekanntschaft war. An der Ecke, wo der Hauptstrom der Passanten in derselben Richtung weiterfloß, wollte er in die Querstraße abbiegen. Aber das junge Mädchen mit den schwarzen Augen packte ihn am Arm, folgte ihm, ihre Begleiterin mit sich ziehend, und rief gleichzeitig:

      »Halt, Bill! Warum so eilig? Meinst du, daß du uns gleich wieder loswerden kannst?«

      Er blieb lachend stehen und wandte sich ihnen zu. Über ihre Schultern hinweg konnte er die Menge sehen, die sich im Schein der Straßenlaternen vorüberdrängte. Hier war es weniger hell, und er konnte sie unbemerkt sehen, wenn sie vorbeikam. Sie mußte vorbeikommen, denn der Weg führte zu ihrem Hause. »Wie heißt sie?« fragte er das kichernde junge Mädchen und machte eine Kopfbewegung nach der Dunkeläugigen.

      »Frag sie selbst«, lautete die Antwort, die fast von Lachen erstickt wurde.

      »Na also, wie heißt du denn?« fragte er und wandte sich zu der andern.

      »Du hast mir ja auch nicht erzählt, wie du heißt«, antwortete sie.

      »Du hast mich ja auch nicht danach gefragt«, antwortete er lächelnd. »Übrigens hast du es gleich erraten, Bill, jawohl.«

      »Ach geh!« Sie sah ihm mit einem brennenden, einladenden Blick in die Augen. »Wie heißt du – aber wirklich!«

      Wieder sah sie ihn an. Alle Jahrhunderte des Weibes von Anbeginn des Geschlechts sprachen aus ihren Augen. Und er maß sie mit einem gleichgültigen Blick und wußte, wenn er sie, die jetzt so dreist war, verfolgte, würde sie sofort schamhaft und vorsichtig den Rückzug antreten, stets bereit, den Spieß umzukehren, sobald sein Eifer nachließe. Aber auch er war nur ein Mensch, und er spürte ihre Anziehungskraft und fühlte sich unbewußt von ihrer Freundlichkeit geschmeichelt. Oh, er kannte ja dies alles, kannte diese Mädchen in- und auswendig. Gute Mädchen, was man in ihrem Stande »gut« nannte, Mädchen, die um geringen Lohn schwer arbeiteten und sich für zu gut hielten, als daß sie sich für ein angenehmeres Leben verkauft hätten; Mädchen, die erfüllt waren von einem fieberhaften Drang nach einem ganz klein wenig Glück in der Wüste des Daseins – eine Zukunft vor Augen, die zwischen dem Elend ewiger Plackerei und dem noch scheußlicheren Elend schwankte, zu dem der Weg kürzer, wenn auch besser bezahlt war.

      »Bill«, antwortete er nickend. »Wahrhaftig, Bill Pete und nicht anders.«

      »Kein Spaß?« fragte sie.

      »Er heißt gar nicht Bill«, mischte sich das andere Mädchen ein.

      »Woher weißt du das?« fragte er. »Du hast mich doch noch nie gesehen.«

      »Das ist auch gar nicht nötig, um zu merken, daß du lügst«, lautete die Antwort.

      »Sag ehrlich, wie du heißt, Bill«, drängte das erste junge Mädchen.

      »Bill ist wohl ebensogut wie jeder andere Name«, sagte er.

      Sie griff seinen Arm und schüttelte ihn scherzhaft.

      »Ich wußte, daß du lügst, aber deshalb gefällst du mir doch.«

      Er nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und fühlte auf der Handfläche vertraute Zeichen und Narben.

      »Wann hast du in der Konservenfabrik aufgehört?« fragte er.

      »Woher weißt du?« und »Gott, er ist wohl Gedankenleser!« riefen die jungen Mädchen im Chor.

      Und während er törichte Worte mit ihnen wechselte, wie sie für törichte Seelen paßten, erhoben sich vor seinen inneren Augen die Bücherregale der Bibliothek, voll von der Weisheit der Jahrhunderte. Er lächelte bitter über den Gegensatz in alledem, und Zweifel stiegen in ihm auf. Aber zwischen seinen inneren Gesichten und äußerer Heiterkeit fand er doch Zeit, die Menge zu beobachten, die aus dem Theater strömte. Und da sah er sie im Schein der Laternen, zwischen ihrem Bruder und dem fremden jungen Mann mit der Brille, und ihm war, als ob sein Herz stillstände. Lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Er konnte eben das spinnwebfeine Tuch, das den stolzen Kopf verbarg, die schönen Linien der schlanken Gestalt, die anmutige Haltung und die Hand, die die Röcke hielt, bemerken, dann war sie verschwunden; und er stand da und starrte auf die beiden Mädels aus der Konservenfabrik, ihre armseligen Kleider, in denen sie schön auszusehen versuchten, ihre tragischen Bemühungen, schmuck und sauber zu erscheinen, den billigen Stoff, die billigen Bänder und die billigen Ringe an ihren Fingern. Er fühlte, wie die eine ihn am Arm zog, und hörte eine Stimme:

      »Wach auf, Bill! Was ist los mit dir?«

      »Was sagst du?« fragte er.

      »Ach nichts«, antwortete das dunkle junge Mädchen und warf den Kopf zurück. »Ich wollte nur…«

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