LUNATA
Erzählungen
© 1888 Anton Tschechow
Aus dem Russischen von Korfiz Holm,
Alexander Eliasberger
Umschlagbild Sawrey Gilpin
© Lunata Berlin 2020
Inhalt
Ein bekannter Herr
Die reizende Wanda oder wie sie nach dem Paß hieß, die Bürgerin Nastaßja Kanawkina befand sich bei ihrer Entlassung aus dem Krankenhause in einer Lage, wie sie sich in einer solchen früher noch nie befunden hatte: ohne Unterkunft und ohne einen Kopeken Geld. Was war da zu machen?
Ihr erster Gang war ins Leihhaus, wo sie ihren Türkisring, die einzige »Wertsache«, die sie besaß, versetzte. Für den Ring erhielt sie einen Rubel, aber … was kann man sich für einen Rubel kaufen? Für diese Summe bekommt man weder ein modernes kurzes Jackett, noch einen hohen Hut, noch Goldkäferschuhe; ohne diese Sachen aber fühlte sie sich so gut wie nackt. Es schien ihr, daß nicht nur die Menschen, sondern auch die Pferde und Hunde sie ansahen und sich über die Einfachheit ihres Kostüms lustig machten. Sie dachte nur an ihre Toilette, während die Frage, wie sie essen und wo sie schlafen würde, sie nicht im geringsten beunruhigte.
»Wenn ich doch irgend einen bekannten Herrn treffen würde …« dachte sie. »Ich würde dann von ihm etwas Geld erbitten … Mir wird es keiner abschlagen, denn …«
Aber die bekannten Herren begegneten ihr nicht. Es wäre nicht schwer gewesen, sie am Abend in der »Renaissance« zu treffen, aber in die »Renaissance« würde man sie in diesem einfachen Kleide und ohne Hut nicht hineinlassen. Was sollte sie tun?
Nach langem Zaudern, als sie des Gehens, Sitzens und Nachdenkens schon müde geworden war, entschloss sich Wanda, das letzte Mittel zu ergreifen: irgend einen bekannten Herrn direkt in seiner Wohnung aufzusuchen und ihn um Geld zu bitten.
»Zu wem soll' ich nur gehen?« überlegte sie. »Zu Mischa geht es nicht – verheiratet … Der rothaarige Alte ist jetzt im Dienst …«
Ihr fiel der Zahnarzt Finkel ein, ein getaufter Jude, der ihr vor drei Monaten ein Armband geschenkt, und dem sie einmal bei einem Souper im »Deutschen Club« ein Glas Wein auf den Kopf gegossen hatte. Als ihr der Gedanke an diesen Finkel gekommen war, freute sich Wanda furchtbar.
»Er wird mir bestimmt geben, wenn ich ihn nur zu Hause treffe …« dachte sie auf dem Wege zu dem Zahnarzt. »Gibt er aber nichts, so zerkeile ich ihm alle Lampen …«
Als sie sich der Tür des Zahnarztes näherte, war ihr Plan schon fertig: sie wird lachend die Treppe hinauslaufen, in das Kabinett des Arztes stürzen und fünf und zwanzig Rubel verlangen … Als sie aber nach der Klingel griff, verflüchtigte sich dieser Plan wie von selbst. Wanda bekam plötzlich Furcht und wurde aufgeregt, was ihr früher niemals passiert war. Dreist und frech war sie nur in bezechter Gesellschaft, jetzt aber, in gewöhnlicher Kleidung, in die Rolle einer gewöhnlichen Bittstellerin versetzt, die einfach nicht empfangen werden konnte, fühlte sie sich schüchtern und gedemütigt. Schande und Furcht befielen sie.
»Vielleicht hat er mich schon vergessen …« dachte sie, während sie nicht wagte, an der Klingel zu ziehen. »Und wie soll ich zu ihm in einem solchen Kleide? Wie eine Bettlerin oder irgend eine Kleinbürgerin …«
Und zögernd klingelte sie.
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