Название: Limit up - Sieben Jahre schwerelos
Автор: Uwe Woitzig
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783738003406
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Ich stelle mir vor, ein Multiplex Kino zu betreten. Über einem der Eingänge entdecke ich zu meiner Verblüffung meinen Namen als Filmtitel. Ich betrete den Kinosaal, in dem nur eine einzige Person sitzt, die gebannt auf die Leinwand starrt. Ich setze mich neben die Person und stelle fest, dass ich es selbst bin, der sich hier den Film seines Lebens anschaut. Mein Blick fällt auf die Leinwand und ich erkenne sofort alle Darsteller. Es sind meine Eltern, meine Großeltern, meine Ehefrauen, meine Geliebten, meine Freunde und meine Geschäftspartner. Und der Held des Films bin ich selbst. Ich handele so, wie ich mich kenne und mich immer gesehen habe. Auch alle anderen Figuren des Films agieren wie gewohnt und die Handlung ist mir bestens bekannt.
Nach dem Ende des Films gehe ich den angrenzenden Kinosaal. Hier läuft der Film mit dem Namen meiner Mutter. Aber sie ist völlig anders als in meinem Film. Weil das ihre Geschichte ist, zeigt sie der Film so, wie sie gerne wahrgenommen werden möchte und wie sie sich wahrnimmt. Und das ist vollkommen anders, als ich sie in meinem Film gesehen habe. Ich bin schockiert. Der Schock wird noch größer, als ich entdecke, dass ich eine der Nebenfiguren ihres Films bin. Allerdings spiele ich eine vollkommen andere Rolle als in meinem Film, deshalb habe ich mich zunächst gar nicht erkannt. Dann begreife ich, dass ich mich in ihrem Film so sehe, wie meine Mutter mich versteht und wahrnimmt, was weit davon entfernt ist, wie ich mich selbst einschätze. Auch meinen Vater sehe ich so, wie meine Mutter ihn sieht, und auch das entspricht nicht meiner eigenen Vorstellung von ihm.
Verwirrt gehe ich zurück in den Saal, in dem mein Film läuft. Ich schaue ihn mir noch einmal an. Auf einmal zweifle ich an dem, was ich sehe. Es ist meine eigene Geschichte, aber jetzt weiß ich, dass es nur eine aus meinem Blickwinkel erzählte Geschichte ist, die von anderen ganz anders erlebt wurde. Mir wird bewusst, dass ich mein Leben lang umsonst geschauspielert habe, weil kein Mensch mich so sieht, wie ich gesehen werden wollte. Die Menschen um mich herum haben von den dramatischen Ereignissen in meinem Film eigentlich gar nicht viel mitbekommen, weil sie so sehr auf ihren eigenen Film konzentriert waren. Alle lebten in ihrer eigenen Welt, in ihrer eigenen Geschichte. Und diese Geschichte ist für jeden seine Wahrheit.
Das führt mich zu der Erkenntnis, dass die Meinungen der anderen über mich nur jene Figur betreffen, die in ihren Filmen mitspielte, also die sie selbst geschaffen haben. Was immer sie von mir denken, bezieht sich auf das von ihnen geschaffene Bild von mir, das ich in Wirklichkeit gar nicht bin. Selbst die Menschen, die mich am meisten lieben oder geliebt haben, kennen mich nicht und ich kenne sie auch nicht.
Seit ich sieben Jahre mit meinen Hunden auf einem Berg in Tirol gelebt habe, der „Schatzberg“ hieß, verstehe ich mich selbst und die vielen Menschen, denen ich in meinem Leben bisher begegnet bin, viel besser. Der Leser wird in meinem Bericht über diese entscheidende Phase meines Lebens einige seiner Facetten entdecken und vielleicht den Mut finden, viele der aus Angst vor der Meinung Anderer unterdrückten Teile seines Potenzials ans Tageslicht zu holen und sie endlich zuzulassen. Ohne Furcht vor Kritik, Verurteilungen oder Misserfolgen. Es gibt kein schöneres Gefühl, als nach einem scheinbaren Niederschlag sich wieder aufzurappeln. Jede Katastrophe ist auch ein Grund zur Freude, denn sie befreit von einer Menge Ballast, Mühen und Sorgen. Sie ist eine Chance zum Neuanfang. Wie es so wunderbar in dem Film „Alexis Sorbas“ dargestellt wird, in dem Anthony Quinn nach dem Zusammenbruch der mühsam errichteten Seilbahn zu seinem vor Schreck erstarrten „Boss“ sagt: „Was für eine wunderbare Katastrophe!“ und mit ihm - tanzt.
Viel unangenehmer sind die scheinbaren Erfolge. Sie erzeugen Verlustängste am Tag und Albträume in der Nacht. Auf der Höhe meines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolges hatte ich eines Nachts einen merkwürdigen Traum, der mich schweißgebadet aufwachen ließ. Ich träumte, dass ich mich mit vielen anderen Menschen in einem Teerloch befand. Wir waren alle von Kopf bis Fuß mit dem klebrigen Zeug bedeckt, unfähig, schnell von einem Platz zum anderen zu wechseln, weil die schwarze Masse so zäh und dickflüssig war und unsere Bewegungsfreiheit auf ein Minimum reduzierte.
Dieser Traum symbolisierte den inneren Zustand, den ich nach den ersten 35 Jahren meines Lebens erreicht hatte. Wie ich mich aus dem „Teerloch“ befreite, habe ich in meinem Buch „Hofgang im Handstand“ beschrieben. Es war mir gelungen, aus meiner alten Energie auszubrechen und mit mir spirituell, physisch und mental im Einklang zu sein.
Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden, sagt Kierkegaard. Erst heute begreife ich die im wahrsten Sinne des Wortes wundervollen Mechanismen, die mich dahin gebracht haben, wo ich heute bin. Jetzt bin ich soweit und kann den Sinn meines Lebens, das scheinbar viele Irrwege, aber eine präzise Richtung hatte, erahnen.
Meine Lebensgeschichte ist in Wirklichkeit nicht von Bedeutung. Sie ist nur ein Vehikel, das ich benutze, um meinen Erkenntnissen Authentizität zu verleihen.
Kapitel 1
Tausend Wolken inmitten ungezählter Bäche
Und dazwischen ein Mensch voll innerer Ruhe.
Bei Tage streift er durch die dunkelgrünen Hügel,
Des Nachts schläft er unterhalb der Klippen.
Sanft gehen die Jahreszeiten an ihm vorüber,
Gelassen, rein – ohne irdische Bande.
Welche Freuden! – Und worauf beruhen sie?
Auf stiller Ruhe, herbstlichem Flusswasser gleich.
(Hanshan)
Die letzten Meter waren grausam. Gnadenlos stach mir die Augustsonne ins Genick. Der Schweiß lief unaufhörlich in meine Augen. Meine Lungen brannten. Meine Muskulatur hatte sich aufgelöst und meine Beine waren zu Gummi geworden. Dennoch gab ich nicht auf. Ich sah das verdammte Gipfelkreuz vor mir und wollte es berühren. Der Galtenberg, auf dessen höchsten Punkt ich gerade mit letzter Kraft zu taumelte, war der erste Berg, den ich in meiner neuen Heimat bestieg. Jedem erfahrenen Alpinisten würde sein Schwierigkeitsgrad nur ein müdes Lächeln entlocken. Aber für mich Ungeübten war der hinter mir liegende sechsstündige Aufstieg über felsiges Geröll und schartige Kanten bereits eine heftige Herausforderung gewesen. Speziell die letzten hundert Meter, die mich auf den steil aufragenden bizarren Felsen des Gipfels führten, hatten mich extrem gefordert.
Der Boden war von Eis und harschem Schnee überzogen. Mühsam kämpfte ich mich auf dem glitschigen, äußerst tückischen Untergrund vorwärts. Immer wieder hatte ich den Halt verloren und war gestürzt. Mein ganzer Körper war mit Prellungen und Blutergüssen überzogen. Jeder Schritt sandte eine Welle des Schmerzes durch mich hindurch. Doch ich gab nicht auf und ging weiter. Schweißüberströmt und nach Luft ringend erreichte ich schließlich das Gipfelkreuz. Mit zitternden Beinen umarmte ich das eiskalte Holz des mächtigen Holzbalkens. Langsam ließ ich mich am Fuße des Symbols der in Tirol allgegenwärtigen katholischen Kirche nieder.
Mein Herz raste. Deutlich vernahm ich das Pochen des Herzschlages in meinen Ohren. Vollkommen erschöpft öffnete ich mit zitternden Händen mühsam meinen Rucksack und holte die mitgebrachte Jause heraus. Nach den ersten Bissen von einem Käsebrot mit Gurke und einem großen Schluck kühlen Weins aus einer Thermosflasche kehrten meine Kräfte allmählich zurück. Erst jetzt schaute ich mich um. Ich war umgeben von Hunderten von Gipfeln, die majestätisch und unberührt von dem hektischen Treiben der Menschen in den wolkenlosen Himmel ragten. Das atemberaubende Alpenpanorama, das sich vor mir bis zum Horizont ausdehnte, versöhnte mich sofort mit der hinter mir liegenden Strapaze.
Mit geschlossenen Augen genoss ich die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht und dachte daran, was ich, der rastlos suchende Junge aus dem Kohlenpott, in meinem Leben bisher alles erlebt hatte, СКАЧАТЬ