Der Nachlass. Werner Hetzschold
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Название: Der Nachlass

Автор: Werner Hetzschold

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783752924022

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СКАЧАТЬ auch in den Meyerschen wohnen, besitzen noch einen kleinen Flur. So ein winzig kleiner Flur lässt die Wohnung gleich viel größer erscheinen. Vom Hausflur tritt der Besucher nicht sofort in die Küche ein, sondern in diesen kleinen Raum mit einer Garderobe für die Jacken und Schuhe. Von diesem Raum aus führen Türen in die anderen Zimmer. Die Häuser hier sehen sich auch ähnlich, aber sie sehen anders aus als die Meyerschen. Die Meyerschen sind aus roten Ziegelsteinen gebaut, die Häuser hier sind abgeputzt und sehen viel freundlicher aus. Vor den Häusern dehnen sich auch Grünanlagen aus. Teppichstangen gibt es auch. Bestimmt kann man hier auch murmeln.

      Frau Schlundt schiebt Thomas durch eine offenstehende Haustür, steigt mit ihm die Stufen hinauf, Treppenabsatz um Treppenabsatz. Ihre Hand fühlt sich eisig kalt an und zerdrückt fast die Hand des Jungen. Thomas möchte ihr seine Hand entreißen, nur hat er der Mutter versprochen, sich manierlich zu verhalten. Er will verhindern, dass Frau Schlundt sich über ihn beklagen kann. Jetzt stehen sie vor einer Tür. Einen Augenblick scheint Frau Schlundt zu zögern, dann drückt ihr langer, dürrer Zeigefinger der rechten Hand auf den Klingelknopf. Schritte sind hinter der Tür zu hören, dann wird sie geöffnet. Eine Frau mit blonden, kurzen Haaren steht in der Tür. Viel jünger sieht sie aus als Frau Schlundt, stellt Thomas fest, auch viel freundlicher. Bestimmt kann diese Frau mit ihren Augen lachen. Die Frau lässt sie eintreten. Das ist also die richtige Frau von Onkel Erich, denkt Thomas. Sie passt viel besser zu ihm als Frau Schlundt. Nicht nur weil sie jünger ist, sondern weil sie lebendiger ist, nicht so steif, sondern beweglich, nicht so kalt, sondern warm und freundlich. Der Junge spürt die Wärme und Geborgenheit, die von dieser Frau ausgeht. Er mag sie, wie er den Sommer liebt. Frau Schlundt ist dagegen wie ein nasskalter Novembertag. Die Frau führt sie in die Küche, bittet sie Platz zu nehmen. Dabei weist sie auf weiß gestrichene Stühle.

      Vielleicht hat sie keine Stube, denkt Thomas. Oder sie will sie nicht in ihre Stube einlassen. Manche Leute haben so gute Stuben, dass sie nie in den Stuben leben, sondern sie nur den Leuten zeigen, wenn sie Besuch haben. Aber die Frau von Onkel Erich sieht nicht so aus, als würde sie nur eine Stube zum Vorzeigen haben.

      Ein Mann und ein Mädchen tauchen hinter einer Tür auf.

      Sie ist älter als ich. Bestimmt vier Jahre, vielleicht auch fünf, schätzt Thomas. Das Mädchen hat einen blonden Pferdeschwanz und lustige, blaue Augen wie ihre Mama. Die Blumen auf ihrem Kleid lachen auch. Es sind andere Blumen. Sie sind nicht vornehm kalt wie die Blumen auf dem Kleid von Frau Schlundt. Der Mann ist so alt wie Onkel Erich. Er hat eine Glatze. Nur an der Seite sind Haare. Die sind aber ganz kurz geschnitten, so dass sie kaum zu bemerken sind. Wortlos setzt sich der Mann auf einen Stuhl.

      Die Frau sagt zu dem Mädchen: „Hannelore, sei so lieb und kümmere dich etwas um den jungen Mann. Am besten, du gehst mit ihm spazieren und spendierst ihm ein Eis.“ Die Frau reicht dem Mädchen Geld.

      Hannelore heißt sie. Thomas gefällt der Name.

      Das Mädchen nimmt ihn bei der Hand. Ihre Hand ist warm, weich, geschmeidig, fühlt sich einfach gut an. Diese Hand soll seine nicht so schnell loslassen, hofft Thomas.

      Während Hannelore mit ihm durch eine Gartenanlage bummelt und später an der Ecke für sich und ihn ein Eis kauft, verbleibt Frau Schlundt in der Wohnung von Erichs Frau.

      Als die Sonne nicht mehr so heiß brennt, kehren Hannelore und Thomas zurück. Für Thomas ist es ein schneller Abschied. Frau Schlundt verlässt mit ihm Stünz. Ihr Gesicht strahlt wie das eines Gewinners.

      „Ein Eis hast du ja schon bekommen“, sagt Frau Schlundt, „und zwei Eis wären zu viel.“

      Thomas ist da anderer Ansicht: Wenn sie schon kein Eis spendieren will, dann wenigstens Schokolade oder Kuchen. Das denkt er aber nur. Er hat ja seiner Mutter versprochen, sich manierlich aufzuführen.

      Nur hat Frau Schlundt längst vergessen, was sie versprochen hat. Ihre Gedanken beschäftigen sich jetzt nicht mit Kaffee und Kuchen oder Eis. Frau Schlundt denkt an die Zukunft. Und sie lächelt dabei.

      2

      Längst ist die Zeit vorbei, dass die Schule erst um elf oder gar um zwölf beginnt. Wie die Großen muss Thomas jetzt auch früh aufstehen, damit er Punkt acht Uhr in der Schule ist.

      Während Thomas mit den Großen und Kleinen aus dem Viertel auf dem gewohnten Schulweg am Stötteritzer Bahnhof vorbei die Schönbach Straße in Richtung 28. Grundschule hinaufsteigt, freut er sich auf seinen immer näher kommenden Geburtstag.

      Als er den Klassenraum unmittelbar vor dem Stundenklingeln betritt, fliegt ihm ein nasser Schwamm an den Kopf. Ohne sich lange zu besinnen, schleudert Thomas den noch immer vor Nässe triefenden Schwamm seinem vermeintlichen Gegner entgegen, denn Thomas ist nicht entgangen, aus welcher Richtung der Schwamm kam. Kaum hat er den Schwamm abgefeuert, duckt er sich ab, gleich neben der Bank hinter der Tür.

      „Hier ist schwer was los!“ Sein Freund Wolfgang kniet neben ihm in der Deckung.

      „Das habe ich gleich bemerkt. Noch nie war früh so eine Stimmung! Vorsichtig prüft Thomas die Lage.

      „Habt ihr zu Hause kein Radio?“

      „Doch! So einen alten Volksempfänger.“

      „Damit könnt ihr auch Nachrichten hören.“

      „Und welche Nachricht hätte ich hören sollen?“

      „Auf allen Sendern haben sie es gebracht: Stalin ist tot. Und jetzt wollen wir überall die Stalinbilder entfernen.“

      „Wer ist wir?“

      „Zum Beispiel du und ich und noch ein paar andere. Und jetzt tobt der Klassenkampf.“

      „Mir hat der Stalin nichts getan“, sagt Thomas, „von mir aus kann er dort hängen.“

      „Der wird nicht mehr hier hängen. Den nehmen wir ab und lassen ihn verschwinden, wo ihn niemand mehr findet.“ Die Augen von Wolfgang glühen wie die eines Revolutionärs.

      Thomas ist beeindruckt von der Haltung seines Schulfreundes. Trotzdem zieht er es vor, sich nicht in den Klassenkampf einzumischen. Er hat Angst vor den großen Helden. In seinem Lesebuch sind viele Geschichten von solchen großen Helden abgedruckt. Auch wenn sie die Sieger waren, gab es viele Tote zu beklagen; viele tote Kampfgenossen und viele tote Verräter. Die Helden blieben am Leben, nur ihre namenlosen Mitstreiter hatten ihr Leben für die große Sache geopfert und hatten Glück, wenn ihr Tod beweint wurde, viele starben unbemerkt, namenlos, bereits vergessen. Die Namen der Toten wurden nicht genannt, dafür nur Zahlen. Thomas will kein Held sein.

      „Ich werde das Stalinbild mit meinem Schlüsselbund zerstören.“ Wolfgang holt das Schlüsselbund aus der Tasche, setzt zum Sturmangriff an, wie er selbst sagt. Gerade in dem Augenblick wird die Tür aufgerissen, und ihr Klassenlehrer, der Herr Sanftmut, steht im Raum. Alle stürmen auf ihre Plätze, stehen still neben ihrer Bank. Die Stimme von Herrn Sanftmut klingt noch härter als sonst: „Ich setze voraus, dass ihr wisst, was sich ereignet hat. Wir werden den großen Stalin nie vergessen! Fünf Minuten werden wir jetzt schweigend an ihn denken. Fünf Minuten, habe ich gesagt. Und wer das nicht kann, der wird mich kennen lernen, mit dem fahre ich Schlitten.“

      Mit Herrn Sanftmut will sich keiner aus der Klasse anlegen. Schweigend stehen alle neben ihrer Bank und starren ausdruckslos vor sich hin.

      In der Pause sagt Wolfgang zu Thomas: „Der Sanftmut hat uns nur zwei Minuten stehen lassen. Ich СКАЧАТЬ