Название: Der Nachlass
Автор: Werner Hetzschold
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783752924022
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Auch seine Mutter ist mit der Wäsche zufrieden. Abschließend kontrolliert sie seine Ohren. Als es auch bei ihnen nichts zu beanstanden gibt, darf Thomas die nach Frische duftende Wäsche überstreifen. Bevor er nochmals einer Prüfung unterzogen wird, muss er sich die Haare kämmen, exakt einen Scheitel ziehen. Er muss nicht lange auf Frau Schlundt warten. Frisch poliert wie ein reifer Herbstapfel, der jeden Augenblick vom Baum zu fallen droht, steht sie wieder unvermittelt in der Tür.
„Der Junge ist ja gar nicht wiederzuerkennen“, stellt Frau Schlundt vor Freude strahlend fest. Wenn sie guter Laune ist, zeigt sie ihre tadellosen schneeweißen Zähne.
„Die müssen ein Vermögen gekostet haben“, erinnert sich Thomas. Damals saßen sie am Abendbrottisch, und seine Eltern unterhielten sich über die Frau Schlundt. Da kam seine Mutter auch auf die Zähne dieser Frau zu sprechen. Sie sagte zu seinem Vater: „Solche Zähne könne sie sich nie leisten ...“
Dieser Satz bewirkte, dass sein Vater nicht nur verstimmt war, sondern richtig verärgert, fast wütend.
Alle im Viertel wussten, dass Vater Boronsky recht wenig verdiente. Das war auch der Grund, weshalb die Boronskys im Viertel zu den Armen zählten.
Der Leitsatz seines Vaters war: Wir müssen uns eben einschränken.
„Nur hat die Einschränkung auch ihre Grenzen“, widersprach die Mutter jedes Mal. „Irgendwo hat alles seine Grenzen“, fügte sie jedes Mal drohend hinzu.
Gemeinsam mit Frau Schlundt verlässt Thomas die elterliche Wohnung. Kaum haben sie das Viertel hinter sich zurückgelassen, ergreift Frau Schlundt die Hand des Jungen. Thomas hat das Gefühl, als hätte ein Raubvogel ihn erfasst. Frau Schlundt hat eine knöcherne Hand mit langen, dünnen Fingern, die Thomas an die Beine einer Spinne erinnern. Ihre Fingernägel sind spitz wie Indianerpfeile, dazu blutrot bemalt. Auch ihre Lippen glänzen auffallend rot, und lassen ihren Mund riesiger erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. Hinter dem Wohnviertel schließt sich ein kleines Wäldchen an. Thomas ist überzeugt, kein Räuber würde es jetzt wagen, ihn im Beisein der Frau Schlundt zu überfallen.
Die Frau sieht ja gefährlicher aus als der gefährlichste Räuber, denkt Thomas. Frau Schlundt wird jeden Angreifer in die Flucht schlagen. Davon ist Thomas fest überzeugt.
Als sie die Felder erreicht haben, wird Thomas klar, warum Frau Schlundt so ein riesiges Wagenrad auf dem Kopf trägt. Erbarmungslos heiß brennt die Nachmittagssonne. Am liebsten würde Thomas Schuhe, Söckchen und Hemd ausziehen, aber er traut sich nicht. Er hat seiner Mutter versprochen, sich manierlich zu betragen, und er möchte seine Mutter nicht enttäuschen. Jetzt erst fällt Thomas auf, dass sich Frau Schlundt ihr Festtagskleid über ihren dürren Körper gestreift hat. Es ist ein weißes enges Kleid mit großen, roten Rosen und einem feinen Spitzenkragen. Selbst ihren langen, dürren Hals lässt der Kragen kürzer erscheinen. Thomas hatte seine Mutter sagen hören: Das ist das Lieblingskleid der Frau Schlundt. Kein Wunder, kein Kleid kann sie vorteilhafter erscheinen lassen. Inzwischen bereut Thomas, dass er ihr und seiner Mutter gehorcht hat. Viel lieber würde er jetzt am See sein und sich seine Haut bräunen lassen, statt sie mit einem Hemd zu verdecken. Seine Missstimmung entgeht nicht Frau Schlundt.
„Du gehst doch schon zur Schule.“
„Ja.“
„Welche Klasse besuchst du.“
„Die Erste.“
„Gehst du gerne zur Schule?“
„Ja.“
„Was möchtest du denn später einmal werden?“
„Ich möchte was werden, wo ich viel Geld verdiene.“
„Geld allein macht aber nicht glücklich.“
„Aber ich könnte dann alles kaufen, was sich meine Mami wünscht.“
„Lernt ihr in der Schule auch Gedichte?“
„Ja.“
„Was sind das für Gedichte?“
„Mein Bruder ist ein Traktorist in einem Dorf in Sachsen. Er leistet, was nur möglich ist, damit die Halme wachsen. Er rechnet oft und überlegt, wie kann ich‘s besser machen. Und wie er seinen Traktor pflegt! Das Herz kann einem lachen.“
„Und lernt ihr auch solche Texte wie: Eine feste Burg ist unser Gott ...“
„In der Schule nicht, aber im Pfarrhaus. Und wenn ich sonntags in die Kirche gehe, schenkt mir der Pfarrer bunte Bilder mit Engeln und der Jungfrau Maria und dem Jesulein.“
„Gehst du gerne in die Kirche?“
„Ich gehe lieber in die Kirche als in den Garten meiner Großmutter. Da muss ich nämlich immer Unkraut zupfen. Und das gefällt mir nicht. Da gehe ich lieber in die Kirche. Dort brauche ich nichts zu tun. Nur herumsitzen. Und wenn meine Religionslehrerin zu mir hinschaut, tue ich so, als ob ich singe. Dann reiße ich meinen Mund ganz weit auf. Und in der nächsten Religionsstunde lobt sie mich, wie schön ich mitgesungen habe. Manchmal schenkt sie mir auch ein Bild. Habe ich Bilder zwei Mal, tausche ich sie bei meinen Freunden gegen Murmeln ein.“
„Was sind Murmeln?“
„Murmeln sind kleine bunte Kugeln. Wenn wir murmeln, müssen wir viele Kugeln in ein Loch kullern. Es ist gar nicht einfach, den richtigen Platz zum Murmeln zu finden. Auf Rasen lassen sich die Kugeln nicht bewegen. Es muss fester Boden sein. Deshalb spielen wir immer bei den Teppichstangen. Da ist der Boden schön glatt, und schnell haben wir ein Loch gebuddelt.“
„Dort dürft ihr aber nicht spielen. Solche Löcher sind gefährlich. Wie schnell gerät der Fuß in so ein Loch. Habt ihr euch das schon einmal überlegt?“
„Nein! Aber Sie werden schon Recht haben.“ Thomas weiß aus Erfahrung, wenn er den Erwachsenen Recht gibt, hat er seine Ruhe. Er hat keine Lust, sich mit Frau Schlundt zu unterhalten. Sicherlich will sie ihn nur aushorchen, will wissen, was sie noch nicht weiß über ihn und seine Freunde. Deshalb ist es besser, vorsichtig zu sein und sich genau jedes Wort zu überlegen. Wenn sie mit ihm weiterredet, will sie die Namen seiner Freunde wissen, wo sie wohnen, was für eine Wohnung sie haben, ob die Eltern arbeiten. Schon einmal wollte Frau Schlundt etwas über einen Freund wissen. Thomas stellte sich jedoch dumm, konnte ihr nicht einmal den Vornamen nennen. Die Enttäuschung konnte er ihr ansehen.
Inzwischen haben sie Stünz bei Sellerhausen erreicht. Stünz ist wie Stötteritz, manche sagen statt Stötteritz auch Reudnitz, ein Vorort von Leipzig. Schon von Weitem ist der Kirchturm von Stünz zu sehen, weil die Felder den Blick freigeben. Thomas mag die Felder. Sie schieben sich nicht wie die Bäume zwischen ihn und die Sonne. Thomas liebt die Sonne. Ohne sie kann er nicht leben. Im Spätherbst spürt er immer wieder, wie eine große Traurigkeit über ihn kommt. Selbst im Winter, wenn der Schnee die Felder, den Bahndamm vor dem Haus mit einem kalten Weiß überzogen hat, das nach kurzer Zeit sich in ein Grauweiß verwandelt, sehnt sich Thomas nach der Sonne. Wenn die Schlitten den Bahndamm hinuntergleiten, jubelt auch er; trotzdem bleibt der Sommer die schönste Jahreszeit für ihn.
Als sie sich den Häusern in Stünz gleich hinter den Feldern nähern, schnappt die Hand der Frau Schlundt nach der Hand des Jungen, hält diese fest umklammert. Thomas will sie ihr entziehen, aber er hat ja der Mutter versprochen, sich manierlich zu betragen. So lässt er Frau Schlundt gewähren. Thomas vergleicht die Häuser СКАЧАТЬ