Название: Der Nachlass
Автор: Werner Hetzschold
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783752924022
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„Sicherlich wird der Untermieter von Frau Schlundt auch ein Zuhause gehabt haben. Nur wird er es nicht gefunden haben. Vielleicht sind seine Angehörigen fortgezogen, vielleicht sind sie tot, vielleicht... Ich weiß es nicht. Du sollst nicht immer so viele Fragen stellen, mein Junge.“
„Ich denke mir, er wird nicht wissen, wo sie abgeblieben sind, sonst würde er nicht der Untermieter von Frau Schlundt sein.“
„Du sollst nicht so schlecht von Frau Schlundt denken. Sie hat auch gute Seiten. Kein Mensch ist nur schlecht.“
Auf dem Gasherd steht der große Tiegel. In ihm brutzeln die Kartoffelpuffer. Thomas beobachtet sie vom Küchentisch aus, verfolgt ihren Werdegang, wie sie schmackhafter und schmackhafter werden. Als die Kartoffelpuffer ihrer Vollendung entgegengehen, holt Thomas Teller, Messer, Gabel und die Zuckerdose. Aus Erfahrung weiß er, dass Mutter ihm Kartoffelpuffer gibt, solange sie heiß sind, weil sie da am köstlichsten und bekömmlichsten sind. Wenn Vater von der Arbeit kommt, sind sie nur noch warm. Wenn die Familie gemeinsam die warmen Kartoffelpuffer isst, isst Thomas wieder mit, denn er hat einen gesegneten Appetit, wie seine Mutter sagt, wenn sie gut aufgelegt ist. Fest sind die Augen von Thomas auf die Kartoffelpuffer gerichtet, nehmen fest Anteil an ihrer Entwicklung; er schmeckt sie schon. Er braucht das Winken der Mutter nicht abzuwarten. Erwartungsvoll steht er mit seinem Teller vor der brutzelnden Köstlichkeit, die ihm die Mutter im nächsten Augenblick auf den Teller schiebt.
Kaum hat sich Thomas mit seinem dampfenden Teller auf den Stuhl in der Nähe des Fensters zurückgezogen, vernehmen seine Ohren ein Klopfen. Gleich darauf wird die Tür geöffnet, und Frau Schlundt steht in der Küche. Auch seine Mutter ist überrascht, auch wenn er wie sie die unerwarteten Auftritte der Frau Schlundt gewohnt ist. Thomas weiß, seine Mutter mag Frau Schlundt nicht sonderlich; trotzdem ist seine Mutter immer freundlich zu dieser hageren, langen Bohnenstange, wie auch sie die Frau Schlundt nennt. Wenn in der Nachbarschaft von Frau Schlundt die Rede ist, heißt Frau Schlundt nicht Frau Schlundt, sondern die lange, dürre Bohnenstange. Nun steht die lange, dürre Bohnenstange in der Tür, und Thomas ist gespannt und neugierig zugleich, wie sich seine Mutter in dieser Situation verhalten wird. Thomas hat sich nicht getäuscht. Seine Mutter ist dem unvermittelten Eindringen der Frau Schlundt in ihre vier Wände gewachsen. Sie rückt den ihr am nächsten stehenden Stuhl in die Nähe des Herdes. Frau Schlundt deutet die Höflichkeit richtig und nimmt Platz, wobei sie darauf achtet, dass ihr Blumenkleid ihre langen dünnen Beine bedeckt. Dann holt Frau Schlundt tief Luft. Doch bevor sie zu sprechen beginnt, zeigt ihr langer dünner Zeigefinger ihrer rechten Hand auf Thomas. Die Mutter winkt ab. Frau Schlundt erspäht den vollen Teller und weiß Bescheid. Auch Thomas weiß Bescheid. Er weiß, wie er sich zu verhalten hat, wenn Gäste im Raum sind. Manierlich greift er zu Messer und Gabel. Das Wort manierlich ist eine Wortschöpfung seiner Mutter. Frau Schlundt beginnt zu reden. Sie redet wie ein Wasserfall. „Stellen Sie sich vor, Frau Boronsky, er hat seine Familie ausfindig gemacht ...“
„Wer hat seine Familie ausfindig gemacht?“
„Na, mein Untermieter! Der Erich!“
Nun wissen Frau Boronsky und Thomas Bescheid, von wem die Rede ist.
„Stellen Sie sich vor, Frau Boronsky, er hat seine Familie wiedergefunden. Sie haben sich getroffen, seine Frau, deren Freund oder Partner oder Mann – wer weiß auch immer, wer er ist - und haben sich ausgesprochen. Stellen Sie sich vor, liebe Frau Boronsky, sie haben sich ausgesprochen.“
„Ist doch schön,“ hört Thomas seine Mutter sagen, „zumindest besser, als wenn sie sich streiten würden.“
„Aber verstehen Sie nicht - oder wollen Sie nicht verstehen, liebe Frau Boronsky. Überlegen Sie doch einmal, was ich alles für diesen Kerl getan habe. Die Anzüge meines Mannes, die Hemden, die Krawatten, einfach alles habe ich diesem undankbaren Kerl gegeben. Und nun trifft er sich mit ihr. Hinter meinem Rücken! Und dafür habe ich alles für ihn getan; alles für ihn aufgeopfert. Und das ist nun der Dank!“
„Aber beruhigen Sie sich doch ...“ Thomas spürt, seine Mutter ist um eine Anrede verlegen.
„Stellen Sie sich doch einmal vor, liebe Frau Boronsky, erst gestern Nacht habe ich auf seiner Bettkante gesessen, habe auf ein freundliches Wort gehofft, gewartet ...“
Thomas entgeht nicht, wie Frau Schlundt ihn mit schmalen Augen prüft. Schnell beginnt Thomas zu schmatzen. Auch seine Mutter hat den Blick von Frau Schlundt bemerkt.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll, Frau Schlundt, aber der Bengel will partout nicht manierlich essen. Dabei gebe ich mir so große Mühe.“
Frau Schlundt ist zufrieden, setzt ihre Erzählung fort, während die Ohren von Thomas die Funktion einer Antenne übernehmen.
„Stellen Sie sich vor, liebe Frau Boronsky, da sitze ich auf seiner Bettkante, habe nur das dünne, durchsichtige Nachtkleid an, das gute, noch echte Friedensware, damals im bekanntesten Modegeschäft Berlins gekauft; da sitze ich nun in meinem Schick und friere und friere, denn er hat ja keinen Ofen in seinem Zimmer, - er würde ja sowieso nicht heizen, knickrig, wie er ist. Da sitze ich, und die Kälte kriecht an meinem Körper empor, ich spüre ihren eisigen Atem, obwohl in meinem Inneren die Hitze lodert, brodelt. Ich warte und warte ... Ganz geduldig harre ich aus und warte und warte und warte auf ein freundliches Wort von ihm, auf eine Geste, aber nichts passiert. Er ist stumm wie ein Stockfisch. Die Kälte lässt mich erstarren. Ich will zu ihm ins Bett kriechen, aber er bietet mir keine Gelegenheit dazu. Dicht neben der Außenkante liegt er. Keinen Raum lässt er frei für mich. Und dabei bin ich doch so schlank. Ich nenne ihn zärtlich bei seinem Namen. Keine Reaktion! Wie ein Toter liegt er in seinem Bett. Ich bin gerade dabei das letzte Stückchen Anstand zu verlieren, da dreht er sich unvermittelt um und zeigt mir seine kalte Schulter. Ich habe verstanden. Nun begreife ich! Seine Frau oder besser seine ehemalige Frau setzt ihn unter Druck. Der arme Mann weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Alle stellen nur Forderungen. Glücklich bin ich, dass ich das rechtzeitig erkannt habe.“
„Sie sind ein feinfühliger Mensch, Frau Schlundt.“ Thomas spürt genau, wenn seine Mutter ratlos ist.
„Ich hätte eine Bitte, liebe Frau Boronsky: Könnte mich ihr Thomas begleiten, wenn ich zu ihr gehe. Sicherer würde ich mich in der Gegenwart des Jungen fühlen. Bitte erlauben Sie ihm, mir auf meinem schweren Gang zur Seite zu stehen.“
Frau Boronsky ist die Hilflosigkeit anzusehen. „Wenn Sie meinen, dass es Ihnen hilft?“
„Ich würde auch mit ihm in ein Café gehen. Wir könnten Eis essen oder Kuchen.“
Thomas traut seinen Ohren nicht. Frau Schlundt will ihn zu Eis oder Kuchen einladen. Die Entscheidung wird ihm wirklich leicht gemacht.
„Ich werde mich auf den Besuch vorbereiten. In etwa einer Stunde würde ich den Jungen holen kommen, wenn es Ihnen recht ist, liebe Frau Boronsky.“
So unvermittelt wie sie auftauchte, ist die Frau Schlundt auch wieder verschwunden. Frau Boronsky bleibt keine Zeit für eine Antwort.
„Wenn du satt bist, mein Junge“, sagt Frau Boronsky,“wäschst du dich gründlich von oben bis unten. Du wirst ein frisches weißes Hemd anziehen und die gute kurze Hose. Pass auf, dass die weißen Socken in den Sandalen nicht gleich schwarz aussehen. Pass überhaupt auf und betrage dich manierlich. Ich möchte keine Klagen von der Frau Schlundt hören. Und wenn dir etwas angeboten wird, dann führe dich manierlich auf. Schlinge nicht gleich alles hinunter, sondern iss und trink gesittet. Bring keine Schande über uns. Ich möchte nicht, dass es im Viertel heißt... Jetzt hast du genug gegessen.“
Mit Kernseife wäscht СКАЧАТЬ