Название: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil
Автор: Gustav Schwab
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums
isbn: 9783742772527
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halten; die Straße geht schräg in weit umbiegender Krümmung; den Südpol wie den Nordpol mußt
du meiden. Du erblickst deutlich die Gleise der Räder. Senke dich nicht zu tief, sonst gerät die Erde in
Brand; steige nicht zu hoch, sonst verbrennst du den Himmel. Auf, die Finsternis flieht, nimm die
Zügel zur Hand; oder ‐ noch ist es Zeit; besinne dich, liebes Kind; überlaß den Wagen mir, laß mich
der Welt das Licht schenken, und bleibe du Zuschauer!«
Der Jüngling schien die Worte des Vaters gar nicht zu hören, er schwang sich mit einem Sprung auf
den Wagen, ganz erfreut, die Zügel in den Händen zu haben, und nickte dem unzufriedenen Vater
einen kurzen, freundlichen Dank zu. Mittlerweile füllten die vier Flügelrosse mit glutatmendem
Wiehern die Luft, und ihr Huf stampfte gegen die Barren. Ohne etwas vom Lose ihres Enkels zu
ahnen, öffnete Thetis, die Mutter Klymenes, die Schranken; die Welt lag in unendlichem Raume vor
den Blicken des Knaben, die Rosse flogen die Bahn aufwärts und spalteten die Morgennebel, die vor
ihnen lagen.
Inzwischen fühlten die Rosse wohl, daß sie nicht die gewohnte Last trugen und das Joch leichter sei
als gewöhnlich; und wie Schiffe, wenn sie das rechte Gewicht nicht haben, im Meere schwanken, so
machte der Wagen Sprünge in der Luft, ward hoch emporgestoßen und rollte dahin, als wäre er leer.
Als das Rossegespann dies merkte, rannte es, die gebahnten Räume verlassend, und lief nicht mehr
in der vorigen Ordnung. Phaëthon fing an zu erbeben, er wußte nicht, wohin die Zügel lenken, wußte
den Weg nicht, wußte nicht, wie er die wilden Rosse bändigen sollte. Als nun der Unglückliche hoch
vom Himmel abwärts sah, auf die tief, tief unter ihm sich hinstreckenden Länder, wurde er blaß, und
seine Knie zitterten von plötzlichem Schrecken. Er sah rückwärts; schon lag viel Himmel hinter ihm,
aber noch mehr vor seinen Augen. Beides ermaß er in seinem Geiste. Unwissend, was beginnen,
starrte er in die Weite, ließ die Zügel nicht nach, zog sie auch nicht weiter an; er wollte den Rossen
rufen, aber er kannte ihre Namen nicht. Mit Grauen sah er die mannigfaltigen Sternbilder an, die in
abenteuerlichen Gestalten am Himmel herumhingen. Da ließ er, von kaltem Entsetzen gefaßt, die
Zügel fahren, und wie diese herabschlotternd den Rücken der Pferde berührten, so verließen die
Rosse ihre Spur, schweiften seitwärts in fremde Luftgebiete, gingen bald hoch empor, bald tief
hernieder; jetzt stießen sie an den Fixsternen an, jetzt wurden sie auf abschüssigem Pfade in die
Nachbarschaft der Erde herabgerissen. Schon berührten sie die erste Wolkenschicht, die bald
entzündet aufdampfte. Immer tiefer stürzte der Wagen, und unversehens war er einem Hochgebirge
nahe gekommen. Da lechzte vor Hitze der Boden, spaltete sich, und weil plötzlich alle Säfte
austrockneten, fing er an zu glimmen; das Heidegras wurde weißgelb und welkte hinweg; weiter
unten loderte das Laub der Waldbäume auf, bald war die Glut bei der Ebene angekommen; nun
wurde die Saat weggebrannt; ganze Städte loderten in Flammen auf, Länder mit all ihrer Bevölkerung
wurden versengt; rings brannten Hügel, Wälder und Berge. Damals sollen auch die Mohren schwarz
geworden sein. Die Ströme versiegten oder flohen erschreckt nach ihrer Quelle zurück, das Meer
selbst wurde zusammengedrängt, und was jüngst noch See war, wurde trockenes Sandfeld.
An allen Seiten sah Phaëthon den Erdkreis entzündet; ihm selbst wurde die Glut bald unerträglich;
wie tief aus dem Innern einer Feueresse atmete er siedende Luft ein und fühlte unter seinen Sohlen,
wie der Wagen erglühte. Schon konnte er den Dampf und die vom Erdbrand emporgeschleuderte
Asche nicht mehr ertragen; Qualm und pechschwarzes Dunkel umgab ihn; das Flügelgespann riß ihn
nach Willkür fort; endlich ergriff die Glut seine Haare, er stürzte aus dem Wagen, und brennend
wurde er durch die Luft gewirbelt, wie zuweilen ein Stern bei heiterer Luft durch den Himmel zu
schießen scheint. Ferne von der Heimat nahm ihn der breite Strom Eridanos auf und bespülte ihm
sein schäumendes Angesicht. Phöbos, der Vater, der dies alles mit ansehen mußte, verhüllte sein
Haupt in brütender Trauer. Damals, sagt man, sei ein Tag der Erde ohne Sonnenlicht
vorübergeflogen. Der ungeheure Brand leuchtete allein.
Europa
Im Lande Tyrus und Sidon erwuchs die Jungfrau Europa, die Tochter des Königs Agenor, in der tiefen
Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes. Zu dieser ward nachmitternächtlicherweile, wo
untrügliche Träume die Sterblichen besuchen, ein seltsames Traumbild vom Himmel gesendet. Es
kam ihr vor, als erschienen zwei Weltteile in Frauengestalt, Asien und der gegenüberliegende, und
stritten um ihren Besitz. Die eine der Frauen hatte die Gestalt einer Fremden; die andere ‐ und dies
war Asien ‐ glich an Aussehen und Gebärde einer Einheimischen. Diese wehrte sich mit zärtlichem
Eifer für ihr Kind Europa, sprechend, daß sie es sei, welche die geliebte Tochter geboren und gesäugt
hätte. Das fremde Weib aber umfaßte sie wie einen Raub mit gewaltigen Armen und zog sie mit sich
fort, ohne daß Europa im Innern zu widerstreben vermochte. »Komm nur mit mir, Liebchen«, sprach
die Fremde, »ich trage dich als Beute dem Ägiserschütterer Zeus entgegen; so ist dir's vom Geschicke
beschieden.« Mit klopfendem Herzen erwachte Europa und richtete sich vom Lager auf, denn das
Nachtgesicht war hell wie ein Anblick des Tages gewesen. Lange Zeit saß sie unbeweglich aufrecht im
Bette, vor sich hinstarrend, und vor ihren weit aufgetanen Augensternen standen noch die beiden
Weiber. Erst spät öffneten sich ihre Lippen zum bangen Selbstgespräche: »Welcher Himmlische«,