Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab
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СКАЧАТЬ sie im Fluge zu

       halten; die Straße geht schräg in weit umbiegender Krümmung; den Südpol wie den Nordpol mußt

       du meiden. Du erblickst deutlich die Gleise der Räder. Senke dich nicht zu tief, sonst gerät die Erde in

       Brand; steige nicht zu hoch, sonst verbrennst du den Himmel. Auf, die Finsternis flieht, nimm die

       Zügel zur Hand; oder ‐ noch ist es Zeit; besinne dich, liebes Kind; überlaß den Wagen mir, laß mich

       der Welt das Licht schenken, und bleibe du Zuschauer!«

       Der Jüngling schien die Worte des Vaters gar nicht zu hören, er schwang sich mit einem Sprung auf

       den Wagen, ganz erfreut, die Zügel in den Händen zu haben, und nickte dem unzufriedenen Vater

       einen kurzen, freundlichen Dank zu. Mittlerweile füllten die vier Flügelrosse mit glutatmendem

       Wiehern die Luft, und ihr Huf stampfte gegen die Barren. Ohne etwas vom Lose ihres Enkels zu

       ahnen, öffnete Thetis, die Mutter Klymenes, die Schranken; die Welt lag in unendlichem Raume vor

       den Blicken des Knaben, die Rosse flogen die Bahn aufwärts und spalteten die Morgennebel, die vor

       ihnen lagen.

       Inzwischen fühlten die Rosse wohl, daß sie nicht die gewohnte Last trugen und das Joch leichter sei

       als gewöhnlich; und wie Schiffe, wenn sie das rechte Gewicht nicht haben, im Meere schwanken, so

       machte der Wagen Sprünge in der Luft, ward hoch emporgestoßen und rollte dahin, als wäre er leer.

       Als das Rossegespann dies merkte, rannte es, die gebahnten Räume verlassend, und lief nicht mehr

       in der vorigen Ordnung. Phaëthon fing an zu erbeben, er wußte nicht, wohin die Zügel lenken, wußte

       den Weg nicht, wußte nicht, wie er die wilden Rosse bändigen sollte. Als nun der Unglückliche hoch

       vom Himmel abwärts sah, auf die tief, tief unter ihm sich hinstreckenden Länder, wurde er blaß, und

       seine Knie zitterten von plötzlichem Schrecken. Er sah rückwärts; schon lag viel Himmel hinter ihm,

       aber noch mehr vor seinen Augen. Beides ermaß er in seinem Geiste. Unwissend, was beginnen,

       starrte er in die Weite, ließ die Zügel nicht nach, zog sie auch nicht weiter an; er wollte den Rossen

       rufen, aber er kannte ihre Namen nicht. Mit Grauen sah er die mannigfaltigen Sternbilder an, die in

       abenteuerlichen Gestalten am Himmel herumhingen. Da ließ er, von kaltem Entsetzen gefaßt, die

       Zügel fahren, und wie diese herabschlotternd den Rücken der Pferde berührten, so verließen die

       Rosse ihre Spur, schweiften seitwärts in fremde Luftgebiete, gingen bald hoch empor, bald tief

       hernieder; jetzt stießen sie an den Fixsternen an, jetzt wurden sie auf abschüssigem Pfade in die

       Nachbarschaft der Erde herabgerissen. Schon berührten sie die erste Wolkenschicht, die bald

       entzündet aufdampfte. Immer tiefer stürzte der Wagen, und unversehens war er einem Hochgebirge

       nahe gekommen. Da lechzte vor Hitze der Boden, spaltete sich, und weil plötzlich alle Säfte

       austrockneten, fing er an zu glimmen; das Heidegras wurde weißgelb und welkte hinweg; weiter

       unten loderte das Laub der Waldbäume auf, bald war die Glut bei der Ebene angekommen; nun

       wurde die Saat weggebrannt; ganze Städte loderten in Flammen auf, Länder mit all ihrer Bevölkerung

       wurden versengt; rings brannten Hügel, Wälder und Berge. Damals sollen auch die Mohren schwarz

       geworden sein. Die Ströme versiegten oder flohen erschreckt nach ihrer Quelle zurück, das Meer

       selbst wurde zusammengedrängt, und was jüngst noch See war, wurde trockenes Sandfeld.

       An allen Seiten sah Phaëthon den Erdkreis entzündet; ihm selbst wurde die Glut bald unerträglich;

       wie tief aus dem Innern einer Feueresse atmete er siedende Luft ein und fühlte unter seinen Sohlen,

       wie der Wagen erglühte. Schon konnte er den Dampf und die vom Erdbrand emporgeschleuderte

       Asche nicht mehr ertragen; Qualm und pechschwarzes Dunkel umgab ihn; das Flügelgespann riß ihn

       nach Willkür fort; endlich ergriff die Glut seine Haare, er stürzte aus dem Wagen, und brennend

       wurde er durch die Luft gewirbelt, wie zuweilen ein Stern bei heiterer Luft durch den Himmel zu

       schießen scheint. Ferne von der Heimat nahm ihn der breite Strom Eridanos auf und bespülte ihm

       sein schäumendes Angesicht. Phöbos, der Vater, der dies alles mit ansehen mußte, verhüllte sein

       Haupt in brütender Trauer. Damals, sagt man, sei ein Tag der Erde ohne Sonnenlicht

       vorübergeflogen. Der ungeheure Brand leuchtete allein.

       Europa

       Im Lande Tyrus und Sidon erwuchs die Jungfrau Europa, die Tochter des Königs Agenor, in der tiefen

       Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes. Zu dieser ward nachmitternächtlicherweile, wo

       untrügliche Träume die Sterblichen besuchen, ein seltsames Traumbild vom Himmel gesendet. Es

       kam ihr vor, als erschienen zwei Weltteile in Frauengestalt, Asien und der gegenüberliegende, und

       stritten um ihren Besitz. Die eine der Frauen hatte die Gestalt einer Fremden; die andere ‐ und dies

       war Asien ‐ glich an Aussehen und Gebärde einer Einheimischen. Diese wehrte sich mit zärtlichem

       Eifer für ihr Kind Europa, sprechend, daß sie es sei, welche die geliebte Tochter geboren und gesäugt

       hätte. Das fremde Weib aber umfaßte sie wie einen Raub mit gewaltigen Armen und zog sie mit sich

       fort, ohne daß Europa im Innern zu widerstreben vermochte. »Komm nur mit mir, Liebchen«, sprach

       die Fremde, »ich trage dich als Beute dem Ägiserschütterer Zeus entgegen; so ist dir's vom Geschicke

       beschieden.« Mit klopfendem Herzen erwachte Europa und richtete sich vom Lager auf, denn das

       Nachtgesicht war hell wie ein Anblick des Tages gewesen. Lange Zeit saß sie unbeweglich aufrecht im

       Bette, vor sich hinstarrend, und vor ihren weit aufgetanen Augensternen standen noch die beiden

       Weiber. Erst spät öffneten sich ihre Lippen zum bangen Selbstgespräche: »Welcher Himmlische«,

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