Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab
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СКАЧАТЬ er zeigte den Himmel der Erde und die Erde

       dem Himmel wieder. Auch Poseidon, der Meeresfürst, legte den Dreizack nieder und besänftigte die

       Flut. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüsse kehrten in ihr Bett zurück; Wälder streckten ihre mit

       Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folgten, endlich breitete sich auch

       wieder ebenes Land aus, und zuletzt war die Erde wieder da.

       Deukalion blickte um sich. Das Land war verwüstet und in Grabesstille versenkt. Tränen rollten bei

       diesem Anblick über seine Wangen, und er sprach zu seinem Weibe Pyrrha: »Geliebte, einzige

       Lebensgenossin! Soweit ich in die Länder schaue, nach allen Weltgegenden hin, kann ich keine

       lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden miteinander das Volk der Erde, alle andren sind in der

       Wasserflut untergegangen. Aber auch wir sind unsres Lebens noch nicht mit Gewißheit sicher. Jede

       Wolke, die ich sehe, erschreckt meine Seele noch. Und wenn auch alle Gefahr vorüber ist, was fangen

       wir Einsamen auf der verlassenen Erde an? Ach, daß mich mein Vater Prometheus die Kunst gelehrt

       hätte, Menschen zu erschaffen und geformtem Tone Geist einzugießen!« So sprach er, und das

       verlassene Paar fing an zu weinen; dann warfen sie vor einem halb zerstörten Altar der Göttin Themis

       sich auf die Knie nieder und begannen zu der Himmlischen zu flehen: »Sag uns an, o Göttin, durch

       welche Kunst stellen wir unser untergegangenes Menschengeschlecht wieder her? O hilf der

       versunkenen Welt wieder zum Leben!«

       »Verlasset meinen Altar«, tönte die Stimme der Göttin, »umschleiert euer Haupt, löset eure

       gegürteten Glieder und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.«

       Lange verwunderten sich beide über diesen rätselhaften Götterspruch. Pyrrha brach zuerst das

       Schweigen. »Verzeih mir, hohe Göttin«, sprach sie, »wenn ich zusammenschaudre, wenn ich dir nicht

       gehorsame und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerstreuung ihrer Gebeine kränken will!« Aber

       dem Deukalion fuhr es durch den Geist wie ein Lichtstrahl. Er beruhigte seine Gattin mit dem

       freundlichen Worte: »Entweder trügt mich mein Scharfsinn, oder die Worte der Götter sind fromm

       und verbergen keinen Frevel! Unsere große Mutter, das ist die Erde, ihre Knochen sind die Steine;

       und diese, Pyrrha, sollen wir hinter uns werfen!«

       Beide mißtrauten indessen dieser Deutung noch lange. Jedoch, was schadet die Probe, dachten sie.

       So gingen sie denn seitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider und warfen, wie ihnen

       befohlen war, die Steine hinter sich. Da ereignete sich ein großes Wunder: das Gestein begann seine

       Härtigkeit und Spröde abzulegen, wurde geschmeidig, wuchs, gewann eine Gestalt; menschliche

       Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deutlich, sondern rohen Gebilden oder einer in

       Marmor vom Künstler erst aus dem Groben herausgemeißelten Figur ähnlich. Was jedoch an den

       Steinen Feuchtes oder Erdichtes war, das wurde zu Fleisch an dem Körper; das Unbeugsame, Feste

       ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewannen mit Hilfe der

       Götter in kurzer Frist die vom Manne geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe

       geworfenen weibliche.

       Diesen seinen Ursprung verleugnet das menschliche Geschlecht nicht, es ist ein hartes Geschlecht

       und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachsen ist.

       Io

       Inachos, der uralte Stammfürst und König der Pelasger, hatte eine bildschöne Tochter mit Namen Io.

       Auf sie war der Blick des Zeus, des olympischen Herrschers, gefallen, als sie auf der Wiese von Lerna

       der Herden ihres Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in

       Menschengestalt und fing an, sie mit verführerischen Schmeichelworten zu versuchen: »O Jungfrau,

       glücklich ist, der dich besitzen wird; doch ist kein Sterblicher deiner wert, und du verdientest des

       höchsten Gottes Braut zu sein! Wisse denn, ich bin Zeus. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags

       brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Haines, der uns dort zur Linken in seine

       Kühle einlädt; was machst du dir in der Glut des Tages zu schaffen? Fürchte dich doch nicht, den

       dunklen Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauset, zu betreten. Bin doch ich da, dich zu

       schirmen, der Gott, der den Zepter des Himmels führt und die zackigen Blitze über den Erdboden

       versendet.« Aber die Jungfrau floh vor dem Versucher mit eiligen Schritten, und sie wäre ihm auf den

       Flügeln der Angst entkommen, wenn der verfolgende Gott seine Macht nicht mißbraucht und das

       ganze Land in Finsternis gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren

       ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felsen zu rennen oder in einen Fluß zu stürzen. So

       kam die unglückliche Io in die Gewalt des Gottes.

       Hera, die Göttermutter, war längst an die Treulosigkeit ihres Gatten gewöhnt, der sich von ihrer

       Liebe ab‐ und den Töchtern der Halbgötter und der Sterblichen zuwandte; aber sie vermochte ihren

       Zorn und ihre Eifersucht nicht zu bändigen, und mit immer wachem Mißtrauen beobachtete sie alle

       Schritte des Gottes auf der Erde. So schaute sie auch jetzt gerade auf die Gegenden hernieder, wo ihr

       Gemahl ohne ihr Wissen wandelte. Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte sie plötzlich, wie der

       heitere Tag auf einer Stelle durch nächtlichen Nebel getrübt wurde und wie dieser weder einem

       Strome noch dem dunstigen Boden entsteige, noch sonst von einer natürlichen Ursache herrühre. Da

       kam ihr schnell ein Gedanke an die Untreue ihres Gatten; sie spähte rings durch den Olymp und sah

       ihn nicht. »Entweder ich täusche mich«, sprach sie ergrimmt zu sich selbst, »oder ich werde von

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