Название: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil
Автор: Gustav Schwab
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums
isbn: 9783742772527
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dem Himmel wieder. Auch Poseidon, der Meeresfürst, legte den Dreizack nieder und besänftigte die
Flut. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüsse kehrten in ihr Bett zurück; Wälder streckten ihre mit
Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folgten, endlich breitete sich auch
wieder ebenes Land aus, und zuletzt war die Erde wieder da.
Deukalion blickte um sich. Das Land war verwüstet und in Grabesstille versenkt. Tränen rollten bei
diesem Anblick über seine Wangen, und er sprach zu seinem Weibe Pyrrha: »Geliebte, einzige
Lebensgenossin! Soweit ich in die Länder schaue, nach allen Weltgegenden hin, kann ich keine
lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden miteinander das Volk der Erde, alle andren sind in der
Wasserflut untergegangen. Aber auch wir sind unsres Lebens noch nicht mit Gewißheit sicher. Jede
Wolke, die ich sehe, erschreckt meine Seele noch. Und wenn auch alle Gefahr vorüber ist, was fangen
wir Einsamen auf der verlassenen Erde an? Ach, daß mich mein Vater Prometheus die Kunst gelehrt
hätte, Menschen zu erschaffen und geformtem Tone Geist einzugießen!« So sprach er, und das
verlassene Paar fing an zu weinen; dann warfen sie vor einem halb zerstörten Altar der Göttin Themis
sich auf die Knie nieder und begannen zu der Himmlischen zu flehen: »Sag uns an, o Göttin, durch
welche Kunst stellen wir unser untergegangenes Menschengeschlecht wieder her? O hilf der
versunkenen Welt wieder zum Leben!«
»Verlasset meinen Altar«, tönte die Stimme der Göttin, »umschleiert euer Haupt, löset eure
gegürteten Glieder und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.«
Lange verwunderten sich beide über diesen rätselhaften Götterspruch. Pyrrha brach zuerst das
Schweigen. »Verzeih mir, hohe Göttin«, sprach sie, »wenn ich zusammenschaudre, wenn ich dir nicht
gehorsame und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerstreuung ihrer Gebeine kränken will!« Aber
dem Deukalion fuhr es durch den Geist wie ein Lichtstrahl. Er beruhigte seine Gattin mit dem
freundlichen Worte: »Entweder trügt mich mein Scharfsinn, oder die Worte der Götter sind fromm
und verbergen keinen Frevel! Unsere große Mutter, das ist die Erde, ihre Knochen sind die Steine;
und diese, Pyrrha, sollen wir hinter uns werfen!«
Beide mißtrauten indessen dieser Deutung noch lange. Jedoch, was schadet die Probe, dachten sie.
So gingen sie denn seitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider und warfen, wie ihnen
befohlen war, die Steine hinter sich. Da ereignete sich ein großes Wunder: das Gestein begann seine
Härtigkeit und Spröde abzulegen, wurde geschmeidig, wuchs, gewann eine Gestalt; menschliche
Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deutlich, sondern rohen Gebilden oder einer in
Marmor vom Künstler erst aus dem Groben herausgemeißelten Figur ähnlich. Was jedoch an den
Steinen Feuchtes oder Erdichtes war, das wurde zu Fleisch an dem Körper; das Unbeugsame, Feste
ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewannen mit Hilfe der
Götter in kurzer Frist die vom Manne geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe
geworfenen weibliche.
Diesen seinen Ursprung verleugnet das menschliche Geschlecht nicht, es ist ein hartes Geschlecht
und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachsen ist.
Io
Inachos, der uralte Stammfürst und König der Pelasger, hatte eine bildschöne Tochter mit Namen Io.
Auf sie war der Blick des Zeus, des olympischen Herrschers, gefallen, als sie auf der Wiese von Lerna
der Herden ihres Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in
Menschengestalt und fing an, sie mit verführerischen Schmeichelworten zu versuchen: »O Jungfrau,
glücklich ist, der dich besitzen wird; doch ist kein Sterblicher deiner wert, und du verdientest des
höchsten Gottes Braut zu sein! Wisse denn, ich bin Zeus. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags
brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Haines, der uns dort zur Linken in seine
Kühle einlädt; was machst du dir in der Glut des Tages zu schaffen? Fürchte dich doch nicht, den
dunklen Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauset, zu betreten. Bin doch ich da, dich zu
schirmen, der Gott, der den Zepter des Himmels führt und die zackigen Blitze über den Erdboden
versendet.« Aber die Jungfrau floh vor dem Versucher mit eiligen Schritten, und sie wäre ihm auf den
Flügeln der Angst entkommen, wenn der verfolgende Gott seine Macht nicht mißbraucht und das
ganze Land in Finsternis gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren
ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felsen zu rennen oder in einen Fluß zu stürzen. So
kam die unglückliche Io in die Gewalt des Gottes.
Hera, die Göttermutter, war längst an die Treulosigkeit ihres Gatten gewöhnt, der sich von ihrer
Liebe ab‐ und den Töchtern der Halbgötter und der Sterblichen zuwandte; aber sie vermochte ihren
Zorn und ihre Eifersucht nicht zu bändigen, und mit immer wachem Mißtrauen beobachtete sie alle
Schritte des Gottes auf der Erde. So schaute sie auch jetzt gerade auf die Gegenden hernieder, wo ihr
Gemahl ohne ihr Wissen wandelte. Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte sie plötzlich, wie der
heitere Tag auf einer Stelle durch nächtlichen Nebel getrübt wurde und wie dieser weder einem
Strome noch dem dunstigen Boden entsteige, noch sonst von einer natürlichen Ursache herrühre. Da
kam ihr schnell ein Gedanke an die Untreue ihres Gatten; sie spähte rings durch den Olymp und sah
ihn nicht. »Entweder ich täusche mich«, sprach sie ergrimmt zu sich selbst, »oder ich werde von