Название: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil
Автор: Gustav Schwab
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums
isbn: 9783742772527
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vorzeiten. Dem grauen Haare der Eltern selbst wird die Ehrfurcht versagt, Schmachreden werden
gegen sie ausgestoßen, Mißhandlungen müssen sie erdulden. Ihr grausamen Menschen, denket ihr
denn gar nicht an das Göttergericht, daß ihr euren abgelebten Eltern den Dank für ihre Pflege nicht
erstatten wollet? Überall gilt nur das Faustrecht; auf Städteverwüstung sinnen sie gegeneinander.
Nicht derjenige wird begünstigt, der die Wahrheit schwört, der gerecht und gut ist, nein, nur den
Übeltäter, den schnöden Frevler ehren sie; Recht und Mäßigung gilt nichts mehr, der Böse darf den
Edleren verletzen, trügerische, krumme Worte sprechen, Falsches beschwören. Deswegen sind diese
Menschen auch so unglücklich. Schadenfrohe, mißlaunige Scheelsucht verfolgt sie und grollt ihnen
mit dem neidischen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der Scham und der heiligen Scheu, welche sich
bisher doch noch auf der Erde hatten blicken lassen, verhüllen traurig ihren schönen Leib in das
weiße Gewand und verlassen die Menschen, um sich wieder in die Versammlung der ewigen Götter
zurückzuflüchten. Unter den sterblichen Menschen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und
keine Rettung von diesem Unheil ist zu erwarten.«
Deukalion und Pyrrha
Als das eherne Menschengeschlecht auf Erden hauste und Zeus, dem Weltbeherrscher, schlimme
Sage von seinen Freveln zu Ohren gekommen, beschloß er, selbst in menschlicher Bildung die Erde zu
durchstreifen. Aber allenthalben fand er das Gerücht noch geringer als die Wahrheit. Eines Abends in
später Dämmerung trat er unter das ungastliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon, welcher durch
Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch einige Wunderzeichen merken, daß ein Gott gekommen sei;
und die Menge hatte sich auf die Knie geworfen. Lykaon jedoch spottete über diese frommen
Gebete. »Laßt uns sehen«, sprach er, »ob es ein Sterblicher oder ein Gott sei!« Damit beschloß er im
Herzen, den Gast um Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm lastete, mit ungeahntem Tode zu
verderben. Noch vorher aber schlachtete er einen armen Geisel, den ihm das Volk der Molosser
gesandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder in siedendem Wasser oder briet sie am Feuer und
setzte sie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tisch. Zeus, der alles durchschaut hatte, fuhr vom
Mahle empor und sandte die rächende Flamme über die Burg des Gottlosen. Bestürzt entfloh der
König ins freie Feld. Der erste Wehlaut, den er ausstieß, war ein Geheul, sein Gewand wurde zu
Zotteln, seine Arme wurden zu Beinen: er war in einen blutdürstigen Wolf verwandelt.
Zeus kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den Göttern Rat und gedachte das ruchlose
Menschengeschlecht zu vertilgen. Schon wollte er auf alle Länder die Blitze verstreuen; aber die
Furcht, der Äther möchte in Flammen geraten und die Achse des Weltalls verlodern, hielt ihn ab. Er
legte die Donnerkeile, welche ihm die Zyklopen geschmiedet, wieder beiseite und beschloß, über die
ganze Erde Platzregen vom Himmel zu senden und so unter Wolkengüssen die Sterblichen
aufzureiben. Auf der Stelle ward der Nordwind samt allen andren die Wolken verscheuchenden
Winden in die Höhlen des Äolos verschlossen und nur der Südwind von ihm ausgesendet. Dieser flog
mit triefenden Schwingen zur Erde hinab, sein entsetzliches Antlitz bedeckte pechschwarzes Dunkel,
sein Bart war schwer von Gewölk, von seinem weißen Haupthaare rann die Flut, Nebel lagerten auf
der Stirne, aus dem Busen troff ihm das Wasser. Der Südwind griff an den Himmel, faßte mit der
Hand die weit umherhangenden Wolken und fing an, sie auszupressen. Der Donner rollte, gedrängte
Regenflut stürzte vom Himmel; die Saat beugte sich unter dem wogenden Sturm, darnieder lag die
Hoffnung des Landmanns, verdorben war die langwierige Arbeit des ganzen Jahres. Auch Poseidon,
des Zeus Bruder, kam ihm bei dem Zerstörungswerke zu Hilfe, berief alle Flüsse zusammen und
sprach: »Laßt euren Strömungen alle Zügel schießen, fallt in die Häuser, durchbrechet die Dämme!«
Sie vollführten seinen Befehl, und Poseidon selbst durchstach mit seinem Dreizack das Erdreich und
schaffte durch Erschütterung den Fluten Eingang. So strömten die Flüsse über die offene Flur hin,
bedeckten die Felder, rissen Baumpflanzungen, Tempel und Häuser fort. Blieb auch wo ein Palast
stehen, so deckte doch bald das Wasser seinen Giebel, und die höchsten Türme verbargen sich im
Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr unterschieden; alles war See, gestadelose See. Die
Menschen suchten sich zu retten, so gut sie konnten; der eine erkletterte den höchsten Berg, der
andere bestieg einen Kahn und ruderte nun über das Dach seines versunkenen Landhauses oder über
die Hügel seiner Weinpflanzungen hin, daß der Kiel an ihnen streifte. In den Ästen der Wälder
arbeiteten sich die Fische ab; den Eber, den eilenden Hirsch erjagte die Flut; ganze Völker wurden
vom Wasser hinweggerafft, und was die Welt verschonte, starb den Hungertod auf den unbebauten
Heidegipfeln.
Ein solcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen im Lande Phokis über die alles bedeckende
Meerflut hervor. Es war der Parnassos. An ihm schwamm Deukalion, des Prometheus Sohn, den
dieser gewarnt und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit seiner Gattin Pyrrha im Nachen heran. Kein
Mann, kein Weib war je erfunden worden, die an Rechtschaffenheit und Götterscheu diese beiden
übertroffen hätten. Als nun Zeus, vom Himmel herabschauend, die Welt von stehenden Sümpfen
überschwemmt und von den vielen tausendmal Tausenden nur ein einziges Menschenpaar übrig sah,
beide unsträflich, beide andächtige Verehrer der Gottheit, da sandte er den Nordwind aus, sprengte