Название: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil
Автор: Gustav Schwab
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums
isbn: 9783742772527
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zugesandt werden mußten.
Indessen wurde dem Dädalos die lange Verbannung aus der geliebten Heimat doch allmählich zur
Last, und es quälte ihn, bei dem tyrannischen und selbst gegen seinen Freund mißtrauischen Könige
sein ganzes Leben auf einem vom Meere rings umschlossenen Eilande zubringen zu sollen. Sein
erfinderischer Geist sann auf Rettung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich ganz freudig aus:
»Die Rettung ist gefunden; mag mich Minos immerhin von Land und Wasser aussperren, die Luft
bleibt mir doch offen; soviel Minos besitzt, über sie hat er keine Herrschergewalt. Durch die Luft will
ich davongehen!« Gesagt, getan. Dädalos überwältigte mit seinem Erfindungsgeiste die Natur. Er fing
an, Vogelfedern von verschiedener Größe so in Ordnung zu legen, daß er mit der kleinsten begann
und zu der kürzeren Feder stets eine längere fügte, so daß man glauben konnte, sie seien von selbst
ansteigend gewachsen. Diese Federn verknüpfte er in der Mitte mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die
so vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, so daß sie ganz das Ansehen von Flügeln
bekamen. Dädalos hatte einen Knaben namens Ikaros. Dieser stand neben ihm und mischte seine
kindischen Hände neugierig unter die künstliche Arbeit des Vaters; bald griff er nach dem Gefieder,
dessen Flaum von dem Luftzuge bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, dessen der
Künstler sich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater ließ es sorglos geschehen und
lächelte zu den unbeholfenen Bemühungen seines Kindes. Nachdem er die letzte Hand an seine
Arbeit gelegt hatte, paßte sich Dädalos selbst die Flügel an den Leib, setzte sich mit ihnen ins
Gleichgewicht und schwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte. Dann, nachdem er sich wieder
zu Boden gesenkt, belehrte er auch seinen jungen Sohn Ikaros, für den ein kleineres Flügelpaar
gefertigt und bereit lag. »Flieg immer, lieber Sohn«, sprach er, »auf der Mittelstraße, damit nicht,
wenn du den Flug zu sehr nach unten senktest, die Fittiche ans Meerwasser streifen und von
Feuchtigkeit beschwert dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder wenn du dich zu hoch in die
Luftregion verstiegest, dein Gefieder den Sonnenstrahlen zu nahe komme und plötzlich Feuer fange.
Zwischen Wasser und Sonne fliege dahin, immer nur meinem Pfade durch die Luft folgend.« Unter
solchen Ermahnungen knüpfte Dädalos auch dem Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch
zitterte die Hand des Greisen, während er es tat, und eine bange Träne tropfte ihm auf die Hand.
Dann umarmte er den Knaben und gab ihm einen Kuß, der auch sein letzter sein sollte.
Jetzt erhoben sich beide mit ihren Flügeln. Der Vater flog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der eine
zarte Brut zum erstenmal aus dem Neste in die Luft fährt. Doch schwang er besonnen und kunstvoll
das Gefieder, damit der Sohn es ihm nachtun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu
sehen, wie es diesem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Insel Samos zur Linken,
bald Delos und Paros, die Eilande, vorüberflogen. Noch mehrere Küsten sahen sie schwinden, als der
Knabe Ikaros, durch den glücklichen Flug zuversichtlich gemacht, seinen väterlichen Führer verließ
und in verwegenem Übermute mit seinem Flügelpaar einer höheren Zone zusteuerte. Aber die
gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die Nachbarschaft der Sonne erweichte mit allzukräftigen Strahlen
das Wachs, das die Fittiche zusammenhielt, und ehe es Ikaros nur bemerkte, waren die Flügel
aufgelöst und zu beiden Seiten den Schultern entsunken. Noch ruderte der unglückliche Jüngling und
schwang seine nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu fassen, und plötzlich stürzte er in die Tiefe.
Er hatte den Namen seines Vaters als Hilferuf auf den Lippen; doch ehe er ihn aussprechen konnte,
hatte ihn die blaue Meeresflut verschlungen. Das alles war so schnell geschehen, daß Dädalos, hinter
sich nach seinem Sohne, wie er von Zeit zu Zeit zu tun gewohnt war, blickend, nichts mehr von ihm
gewahr wurde. »Ikaros, Ikaros!« rief er trostlos durch den leeren Luftraum: »Wo, in welchem Bezirke
der Luft soll ich dich suchen?« Endlich sandte er die ängstlich forschenden Blicke nach der Tiefe. Da
sah er im Wasser die Federn schwimmen. Nun senkte er seinen Flug und ging, die Flügel abgelegt,
ohne Trost am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den Leichnam seines unglücklichen
Kindes ans Gestade spülten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der verzweifelnde Vater sorgte
für das Begräbnis des Sohnes. Es war eine Insel, wo er sich niedergelassen und wo der Leichnam ans
Ufer geschwemmt worden war. Zum ewigen Gedächtnis an das jammervolle Ereignis erhielt das
Eiland den Namen Ikaria.
Als Dädalos seinen Sohn begraben hatte, fuhr er von dieser Insel weiter nach der großen Insel
Sizilien. Hier herrschte der König Kokalos. Wie einst bei Minos auf Kreta fand er bei ihm gastliche
Aufnahme, und seine Kunst setzte die Einwohner in Erstaunen. Noch lange zeigte man da einen
künstlichen See, den er gegraben und aus dem ein breiter Fluß sich in das benachbarte Meer ergoß;
auf den steilsten Felsen, der nicht zu erstürmen war und wo kaum ein paar Bäume Platz zu haben
schienen, setzte er eine feste Stadt und führte zu ihr einen so engen und künstlich gewundenen Weg
empor, daß drei oder vier Männer hinreichten, die Feste zu verteidigen. Diese unbezwingliche Burg
wählte dann der König Kokalos zur Aufbewahrung seiner Schätze. Das dritte Werk des Dädalos auf
der Insel Sizilien war eine tiefe Höhle. Hier fing der den Dampf unterirdischen Feuers so geschickt
auf, daß der Aufenthalt in einer Grotte, die sonst feucht zu sein pflegte, so angenehm war wie in
einem gelinde geheizten СКАЧАТЬ