Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab
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       aufgeschreckt, die ich im Vaterhause süß und sicher schlummerte? Wer war doch die Fremde, die ich

       im Traume gesehen? Welch eine wunderbare Sehnsucht nach ihr regt sich in meinem Herzen? Und

       wie ist sie selbst mir so liebreich entgegengekommen, und auch als sie mich gewaltsam entführte,

       mit welchem Mutterblicke hat sie mich angelächelt! Mögen die seligen Götter mir den Traum zum

       besten kehren!«

       Der Morgen war herangekommen; der helle Tagesschein vermischte den nächtlichen Schimmer des

       Traumes aus der Seele der Jungfrau, und Europa erhub sich zu den Beschäftigungen und Freuden

       ihres jungfräulichen Lebens. Bald sammelten sich um sie ihre Altergenossinnen und Gespielinnen,

       Töchter der ersten Häuser, welche sie zu Chortänzen, Opfern und Lustgesängen zu begleiten

       pflegten. Auch jetzt kamen sie, ihre Herrin zu einem Gange nach den blumenreichen Wiesen des

       Meeres einzuladen, wo sich die Mädchen der Gegend scharenweise zu versammeln und am üppigen

       Wuchse der Blumen und am rauschenden Halle des Meeres zu erfreuen pflegten. Alle Mädchen

       führten einen Korb zum Blumensammeln in den Händen. Europa selbst trug einen goldenen Korb,

       geschmückt mit glänzenden Bildern aus der Göttersage; er war ein Werk des Hephaistos, ein uraltes

       Göttergeschenk des Erderschütterers Poseidon, das dieser der Libya geschenkt hatte, als er um sie

       warb. Aus ihrem Besitze war es von Hand zu Hand als Erbstück in das Haus des Agenor gekommen.

       Mit diesem Brautschmuck angetan, eilte die holdselige Europa an der Spitze ihrer Gespielinnen den

       Meereswiesen zu, die voll der buntesten Blumen standen. Jubelnd zerstreute sich die Schar der

       Mädchen da‐ und dorthin, jede suchte sich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war. Die eine

       pflückte die glänzende Narzisse, die andere wandte sich der Balsam ausströmenden Hyazinthe zu,

       eine dritte erwählte sich das sanfter duftende Veilchen, andern gefiel der gewürzige Quendel, wieder

       andere brachen den gelben, lockenden Krokus. So flogen die Gespielinnen hin und her; Europa aber

       hatte bald ihr Ziel gefunden, sie stand, wie unter den Grazien die schaumgeborne Liebesgöttin, alle

       ihre Genossinnen überragend, und hielt hoch in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Rosen.

       Als sie genug Blumen gesammelt, lagerten sich die Jungfrauen, ihre Fürstin in der Mitte, harmlos auf

       dem Rasen und fingen an, Kränze zu flechten, die sie, den Nymphen der Wiese zum Dank, an

       grünenden Bäumen aufhängen wollten. Aber nicht lange sollten sie ihren Sinn an den Blumen

       ergötzen, denn in das sorglose Jugendleben Europas griff unversehens das Schicksal ein, das ihr der

       Traum der verschwundenen Nacht geweissagt hatte. Zeus, der Kronide, war von den Geschossen der

       Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Göttervater zu besiegen vermochten, getroffen

       und von der Schönheit der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den Zorn der eifersüchtigen

       Hera fürchtete, auch nicht hoffen durfte, den unschuldigen Sinn der Jungfrau zu betören, so sann der

       verschlagene Gott auf eine neue List. Er verwandelte seine Gestalt und wurde ein Stier. Aber welch

       ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wiese geht oder unters Joch gebeugt den schwerbeladenen

       Wagen zieht; nein, groß, herrlich von Gestalt, mit schwellenden Muskeln am Halse und vollen

       Wampen am Bug; seine Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrechselt, und

       durchsichtiger als reine Juwelen; goldgelb war die Farbe seines Leibes, nur mitten auf der Stirne

       schimmerte ein silberweißes Mal, dem gekrümmten Horne des wachsenden Mondes ähnlich;

       bläulichte, von Verlangen funkelnde Augen rollten ihm im Kopfe.

       Ehe Zeus diese Verwandlung mit sich vornahm, rief er zu sich auf den Olymp den Hermes und sprach,

       ohne ihm etwas von seinen Absichten zu enthüllen: »Spute dich, lieber Sohn, getreuer Vollbringer

       meiner Befehle! Siehst du dort unten das Land, das links zu uns emporblickt? Es ist Phönizien; dieses

       betritt und treibe mir das Vieh des Königes Agenor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirst,

       gegen das Meeresufer hinab.« In wenigen Augenblicken war der geflügelte Gott, dem Winke seines

       Vaters gehorsam, auf der sidonischen Bergweide angekommen und trieb die Herde des Königes,

       unter die sich auch, ohne daß Hermes es geahnt hätte, der verwandelte Zeus als Stier gemischt hatte,

       vom Berge herab nach dem angewiesenen Strande, eben auf jene Wiesen, wo die Tochter Agenors,

       von lyrischen Jungfrauen umringt, sorglos mit Blumen tändelte. Die übrige Herde nun zerstreute sich

       über die Wiesen ferne von den Mädchen; nur der schöne Stier, in welchem der Gott verborgen war,

       näherte sich dem Rasenhügel, auf welchem Europa mit ihren Gespielinnen saß. Schmuck wandelte er

       im üppigen Grase einher, über seiner Stirne schwebte kein Drohen, sein funkelndes Auge flößte keine

       Furcht ein, sein ganzes Aussehen war voll Sanftmut. Europa und ihre Jungfrauen bewunderten die

       edle Gestalt des Tieres und seine friedlichen Gebärden, ja sie bekamen Lust, ihn recht in der Nähe zu

       besehen und ihm den schimmernden Rücken zu streicheln. Der Stier schien dies zu merken, denn er

       kam immer näher und stellte sich endlich dicht vor Europa hin. Diese sprang auf und wich anfangs

       einige Schritte zurück; als aber das Tier sogar zahm stehenblieb, faßte sie sich ein Herz, näherte sich

       wieder und hielt ihm ihren Blumenstrauß vor das schäumende Maul, aus dem sie ein ambrosisches

       Atem anwehte. Der Stier leckte schmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte

       Jungfrauenhand, die ihm den Schaum abwischte und ihn liebreich zu streicheln begann. Immer

       reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja sie wagte es und drückte einen Kuß auf seine

       glänzende Stirne. Da ließ das Tier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere gemeine Stiere

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