Название: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil
Автор: Gustav Schwab
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums
isbn: 9783742772527
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aufgeschreckt, die ich im Vaterhause süß und sicher schlummerte? Wer war doch die Fremde, die ich
im Traume gesehen? Welch eine wunderbare Sehnsucht nach ihr regt sich in meinem Herzen? Und
wie ist sie selbst mir so liebreich entgegengekommen, und auch als sie mich gewaltsam entführte,
mit welchem Mutterblicke hat sie mich angelächelt! Mögen die seligen Götter mir den Traum zum
besten kehren!«
Der Morgen war herangekommen; der helle Tagesschein vermischte den nächtlichen Schimmer des
Traumes aus der Seele der Jungfrau, und Europa erhub sich zu den Beschäftigungen und Freuden
ihres jungfräulichen Lebens. Bald sammelten sich um sie ihre Altergenossinnen und Gespielinnen,
Töchter der ersten Häuser, welche sie zu Chortänzen, Opfern und Lustgesängen zu begleiten
pflegten. Auch jetzt kamen sie, ihre Herrin zu einem Gange nach den blumenreichen Wiesen des
Meeres einzuladen, wo sich die Mädchen der Gegend scharenweise zu versammeln und am üppigen
Wuchse der Blumen und am rauschenden Halle des Meeres zu erfreuen pflegten. Alle Mädchen
führten einen Korb zum Blumensammeln in den Händen. Europa selbst trug einen goldenen Korb,
geschmückt mit glänzenden Bildern aus der Göttersage; er war ein Werk des Hephaistos, ein uraltes
Göttergeschenk des Erderschütterers Poseidon, das dieser der Libya geschenkt hatte, als er um sie
warb. Aus ihrem Besitze war es von Hand zu Hand als Erbstück in das Haus des Agenor gekommen.
Mit diesem Brautschmuck angetan, eilte die holdselige Europa an der Spitze ihrer Gespielinnen den
Meereswiesen zu, die voll der buntesten Blumen standen. Jubelnd zerstreute sich die Schar der
Mädchen da‐ und dorthin, jede suchte sich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war. Die eine
pflückte die glänzende Narzisse, die andere wandte sich der Balsam ausströmenden Hyazinthe zu,
eine dritte erwählte sich das sanfter duftende Veilchen, andern gefiel der gewürzige Quendel, wieder
andere brachen den gelben, lockenden Krokus. So flogen die Gespielinnen hin und her; Europa aber
hatte bald ihr Ziel gefunden, sie stand, wie unter den Grazien die schaumgeborne Liebesgöttin, alle
ihre Genossinnen überragend, und hielt hoch in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Rosen.
Als sie genug Blumen gesammelt, lagerten sich die Jungfrauen, ihre Fürstin in der Mitte, harmlos auf
dem Rasen und fingen an, Kränze zu flechten, die sie, den Nymphen der Wiese zum Dank, an
grünenden Bäumen aufhängen wollten. Aber nicht lange sollten sie ihren Sinn an den Blumen
ergötzen, denn in das sorglose Jugendleben Europas griff unversehens das Schicksal ein, das ihr der
Traum der verschwundenen Nacht geweissagt hatte. Zeus, der Kronide, war von den Geschossen der
Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Göttervater zu besiegen vermochten, getroffen
und von der Schönheit der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den Zorn der eifersüchtigen
Hera fürchtete, auch nicht hoffen durfte, den unschuldigen Sinn der Jungfrau zu betören, so sann der
verschlagene Gott auf eine neue List. Er verwandelte seine Gestalt und wurde ein Stier. Aber welch
ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wiese geht oder unters Joch gebeugt den schwerbeladenen
Wagen zieht; nein, groß, herrlich von Gestalt, mit schwellenden Muskeln am Halse und vollen
Wampen am Bug; seine Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrechselt, und
durchsichtiger als reine Juwelen; goldgelb war die Farbe seines Leibes, nur mitten auf der Stirne
schimmerte ein silberweißes Mal, dem gekrümmten Horne des wachsenden Mondes ähnlich;
bläulichte, von Verlangen funkelnde Augen rollten ihm im Kopfe.
Ehe Zeus diese Verwandlung mit sich vornahm, rief er zu sich auf den Olymp den Hermes und sprach,
ohne ihm etwas von seinen Absichten zu enthüllen: »Spute dich, lieber Sohn, getreuer Vollbringer
meiner Befehle! Siehst du dort unten das Land, das links zu uns emporblickt? Es ist Phönizien; dieses
betritt und treibe mir das Vieh des Königes Agenor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirst,
gegen das Meeresufer hinab.« In wenigen Augenblicken war der geflügelte Gott, dem Winke seines
Vaters gehorsam, auf der sidonischen Bergweide angekommen und trieb die Herde des Königes,
unter die sich auch, ohne daß Hermes es geahnt hätte, der verwandelte Zeus als Stier gemischt hatte,
vom Berge herab nach dem angewiesenen Strande, eben auf jene Wiesen, wo die Tochter Agenors,
von lyrischen Jungfrauen umringt, sorglos mit Blumen tändelte. Die übrige Herde nun zerstreute sich
über die Wiesen ferne von den Mädchen; nur der schöne Stier, in welchem der Gott verborgen war,
näherte sich dem Rasenhügel, auf welchem Europa mit ihren Gespielinnen saß. Schmuck wandelte er
im üppigen Grase einher, über seiner Stirne schwebte kein Drohen, sein funkelndes Auge flößte keine
Furcht ein, sein ganzes Aussehen war voll Sanftmut. Europa und ihre Jungfrauen bewunderten die
edle Gestalt des Tieres und seine friedlichen Gebärden, ja sie bekamen Lust, ihn recht in der Nähe zu
besehen und ihm den schimmernden Rücken zu streicheln. Der Stier schien dies zu merken, denn er
kam immer näher und stellte sich endlich dicht vor Europa hin. Diese sprang auf und wich anfangs
einige Schritte zurück; als aber das Tier sogar zahm stehenblieb, faßte sie sich ein Herz, näherte sich
wieder und hielt ihm ihren Blumenstrauß vor das schäumende Maul, aus dem sie ein ambrosisches
Atem anwehte. Der Stier leckte schmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte
Jungfrauenhand, die ihm den Schaum abwischte und ihn liebreich zu streicheln begann. Immer
reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja sie wagte es und drückte einen Kuß auf seine
glänzende Stirne. Da ließ das Tier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere gemeine Stiere
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