Erzählungen. Rainer Maria Rilke
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Название: Erzählungen

Автор: Rainer Maria Rilke

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783753133133

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СКАЧАТЬ Sonst kümmerte sich Niemand um sie. Der Bauer im roten Hof gab ihr's Essen. Aus Erbarmen. Kam sie nicht zur Zeit auch gut, dann hatten die Knechte um einen Bissen mehr. War ihnen so ein Dorn im Aug' diese kleine Betteldirn. Selbst wegen dieses einen Bissens.

      Auch mit der Schule ging's nicht. Sie hätt' schon Manches gewußt, wenn der Lehrer fragte; aber wenn sie's hatte sagen wollen, so lachten die Andern, dann begann sie zu weinen und die Andern lachten noch mehr. Zuletzt ging sie gar nimmer hin. Niemand vermißte die Kleine.

      Nun lief sie wohl den ganzen Tag träge umher? Nicht doch. Schon früh saß sie draußen am Rain des Mohnfeldes und strickte.

      Ja, das hatte sie das Mütterchen noch gelehrt. Das arme gute Mütterchen! Langsam ging's freilich vorwärts mit den langen spitzen Nadeln und den kleinen, ungeschickten Fingerchen. Aber es ging doch. Und allein war sie auch nicht. Rund um sie herum am Rande des Grabens saß ein ganzer Hofstaat. Lauter Püppchen aus Mohnblumen gemacht. Größere und kleinere. Lichtrote und dunkle. Die schönste von ihnen war die Königin. Die thronte auf einem kleinen körnigen Stein, der in der Sonne glänzte und glitzerte wie lauter Gold.

      Und da gab's in diesem vornehmen Kreise mancherlei Kurzweil. Antje saß ganz ernsthaft da und erzählte der Königin Geschichten. O, sie wußte auch welche. Vom Sneewittchen, von Zwergen und Riesen, Geistern und Kobolden. Die Königin hörte, und ihre roten Hofdamen nickten hin und her mit den Köpfen.

      Wenn sie genug erzählt hatte, dann mußten die Püppchen alle mit einander tanzen. Immer zwei und zwei. Nur die Königin blieb sitzen und sah dem Reigen zu. Dann setzten sie sich wieder alle hin, der ganze Hofstaat. Die Königin aber war sehr streng. Wenn eine von den Hoffräuleins umfiel, dann gab's keine Gnade, dann mußte sie sterben. Dann nahm Klein-Antje die Verurteilte zu sich und durchbohrte ihr den schönen roten Leib mit der Stricknadel ganz ganz ...

      Heute strickte Klein-Antje fleißiger denn je. Als sie von der Arbeit aufblickte, gewahrte sie, daß die Hofdamen alt und sogar die Königin schon ganz welk waren. Freilich, sie saßen nun den ganzen Tag da, und die Sonne hatte gar so sehr gebrannt. Jetzt lehnte sie schon als glutrote Kugel auf den blauen Bergen.

      Schwere flimmernde Abendstille lastete über dem Mohnfeld. Die Luft war ruhig, so ruhig, daß man Antjes Herz hätte schlagen hören müssen wenn es nicht ein gar so kleines Herz gewesen wäre, das gar leise schlug.

      Antje wollte noch nicht heim. Hier war es ja viel schöner, als dort bei der fremden Bäuerin unter'm niedern Dach, wo es immer Schläge gab. Und sie fürchtete sich so vor Schlägen. Mutter hatte sie nie geschlagen, nie.

      Tränen traten der Kleinen in die Augen. Sie fühlte sich auf einmal so verlassen auf der großen, weiten Welt. Über ihre blassen, zarten Wangen rollte es so heiß. Sie hatte nur ihre Püppchen!

      Ja, sie wollte sich neue holen schöne frische. Sie wollte sie wieder vor sich setzen und Märchen erzählen. Sie weinte nicht mehr. Als sie die toten Hofdamen zusammenraffte, da huschte es sogar wie ein Lächeln um den Kindermund.

      Den Strickstrumpf nahm sie auch mit in der linken Hand. In der rechten hielt sie den welken Mohn. So lief sie weit ins Feld hinein, dorthin, wo die schönsten, größten blühten.

      »Das wird eine Königin!« jauchzte sie und bückte sich, um eine prächtige Blume zu brechen.

      Da vernahm sie hinter sich raue Scheltworte. Der Bursche, der das Feld hütete, kam auf sie zu, einen tüchtigen Knüttel schwingend. Antje schrie auf, raffte sich empor und lief was sie konnte feldein. Hinter sich hörte sie die Tritte des Wächters immer näher.

      Sie lief und lief. Ihre Wangen waren sehr rot. Sie keuchte vor Anstrengung und Furcht. In der Linken preßte sie noch immer krampfhaft den Strumpf, in der Rechten trug sie die Mohnblumen.

      Jetzt war der Bursche ganz nahe.

      Sie nahm alle Kräfte zusammen. Sie drückte die Arme gegen die Brust ... Da strauchelte sie über eine Erdscholle. Sie fiel. Ein Schrei.

      Dann blieb sie ganz still liegen.

      Mit einem Fluch beugte sich der Wächter über sie; rau faßte er die Kleine am Arm und hob den Stock. Aber plötzlich ließ er ihn sinken.

      Da über die Blüten und über die Hand des Kindes träufelte etwas Rotes ... er wandte den kleinen Körper um. Das Mädchen rührte sich nicht. Unter dem verwaschenen ärmlichen Schürzchen quoll Blut über die Brust.

      Die Stricknadel war ins Herz gedrungen. Die blauen Kinderaugen waren offen. Um die Lippen lag noch der Zug von Furcht und Schrecken.

      Klein-Antje war tot.

      Die bunten Mohnblumen ringsum aber neigten sich über ihre arme Freundin und flüsterten leise im Abendhauch ...

      Ein Charakter

      Skizze

      So ein rechter Begräbnistag. Feucht, finster, dickatmig. Der vierspännige Totenwagen rollte schwer über die glatten, runden Pflastersteine, die im Herbstlicht wie kahle Schädel glänzten, und seine Räder furchten tief die grauen, schmutzigen Lachen. Die Knechte der Leichenbestattungsanstalt trollten mürrisch mit den schwelenden Lichtern nebenher. Ihnen folgte die Menge der Leidtragenden. Von den Frauenzimmern zeugte nur eine dichte Reihe schwarzer Schleier, die sich wie berußte Spinngewebe zwischen dem Leichenkarren und den blanken Zylinderhüten der männlichen Trauergäste ausspannten. Die vorzüglichste Beschäftigung der ganzen, tiefbetrübten Gesellschaft war, Kleider und Hosen vor dem aufspritzenden Kot zu hüten; mit rührender Aufmerksamkeit tappten sie nach denjenigen Steininseln, die am meisten aus der unermeßlichen Flut aufragten; und auf so manchem Gesichte stand der wohlwollende Wunsch zu lesen, der Selige hätte besseres Wetter für seine beschwerliche Reise abwarten mögen. Zwei Herren nur, die in der dritten Reihe gingen, unterhielten sich ziemlich rege. An den Mienen konnte man ablesen, daß sie menschlich-milde Musterung hielten über des Verstorbenen Taten und Erlebnisse. Das endliche Ergebnis schien recht befriedigend. Sie nickten sich zu mit jenem ernsten Blick, der bei Leichenbegängnissen und anderen öffentlichen Festlichkeiten das geheime Erkennungszeichen biederer Männer bildet. Dann strich der eine sich die Falten im Gesichte glatt und raunte mit schwerwiegender Bewegung des rechten, schwarzen Handschuhs: »Ein Charakter.« Der Nachbar fand diesen Ausdruck so treffend, daß er nur imstande war, denselben mit verstärkter Betonung nachzusprechen: »Ein Charakter.« Und jetzt noch einmal der Biedermannsblick; dabei trat der eine so heftig in eine Pfütze, daß sein Hintermann ein unwilliges Gebrumm vernehmen ließ. Dann sprach keiner von beiden mehr ein Wort. Es ward still. Nur die Räder des Totenwagens knarrten, und die getretnen Lachen glucksten leise.

      Der »Charakter« war zur Welt gekommen als Sohn eines Mannes von mäßigem Wohlstande. Herr M., der Vater, besaß ein kleines Haus, einen großen Ehrbegriff und ein züchtiges Ehweib. Also ziemlich viel.

      Noch atmete der kleine M. nicht die Carbolluft der Wöchnerinnenstube, als die Frauen, welche der jungen Mutter beistanden, schon unter einander Blicke tauschten und tuschelten: »'s wird ein Bub.« Sie verfolgten jede Bewegung der Frau, um in immer erregterem Tone ihre Vermutung auszusprechen. Und als endlich auf die brennende Frage die lebendige, rotbraune, faltige Antwort kam, da wars ein Bub! Der kleine M. wuchs und ward wie jeder andere; es kam die Zeit, da sich seine weichen Vorderfüßchen in ebensolche Hände umwandelten, und da die Finger dieser Hände nicht mehr auf den Dielen kribbelten, sondern mit Vorliebe sich in Mund und Nase aufhielten. Darauf folgten die Jahre der Christbäume und Schaustellungen. Der Knabe wurde jede Woche ein- bis zweimal in die eiskalte ›gute Stube‹ gerufen; dort glotzte man ihn an, betastete ihm Haare, Wangen und Kinn, lehrte СКАЧАТЬ