Название: Unter der Sonne geboren - 2. Teil
Автор: Walter Brendel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783966511872
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Für Mazarin bedeutete die Reise nach Lyon eine reine Qual. Einerseits war er sicher, dass die Katholische Majestät längst von Ludwigs Brautfahrt unterrichtet worden war, andererseits konnte er sich nicht darauf verlassen, dass Philipp den Köder auch schlucken würde. So zog er die Reise von Tag zu Tag mehr in die Länge. Die Aufenthalte in den einzelnen Städten wurden über Gebühr ausgedehnt, was vom Volk als Leutseligkeit des Monarchen ausgelegt wurde. Es sprach sich herum, dass sich der Hof verändert hatte. Viele junge Leute gebe es da nun, lustige Zeitgenossen, die sich freuten, wenn man sie mit Salutschüssen empfing und Ansprachen zu ihren Ehren hielt.
Mazarin wäre nicht er selbst gewesen, hätte er sich wegen seiner Sorgen die Gelegenheit entgehen lassen, die königliche Kasse und auch seine eigene aufzubessern. So setzte er in den größeren Städten, die sie passierten, Königliche Gerichtstage an, auf denen gleichsam im Vorübergehen den Bürgern Geld aus der Tasche gezogen wurde. Die Höflinge vergnügten sich in der Zwischenzeit auf der Jagd oder beim Kartenspiel. Man war sich einig, dass diese Brautschau die vergnüglichste Reise war, die man seit Langem erlebt hatte. Die Braut aus Savoyen? Nun ja, die gab es natürlich auch. Doch eigentlich interessierte sich niemand für sie.
In seiner langen Laufbahn hatte Mazarin viele Aufgaben übernommen, die Geschick verlangten, Diskretion und Mut. Er kannte die hohe Diplomatie, doch ebenso vertraut war er mit den heimlichen Machenschaften, dem Augenzwinkern über den Wirtshaustisch hinweg, dem ein Treffen in irgendeinem finsteren Winkel folgte, bei dem man die Hände des anderen nicht aus den Augen ließ. Den seltsamsten Menschen konnte man bei solchen Aufträgen begegnen, den vornehmsten Herren und dem schlimmsten Abschaum ... Auf eine dieser Personen wartete Mazarin; auf einen, der mehr zuhörte als redete; der zu allem zu gebrauchen war und nichts scheute.
Doch die Reise ging ihrem Ende entgegen. Lyon war nicht mehr weit. Die Boten meldeten, Madame Royale sei mit ihrem Gefolge bereits angekommen. Mazarin hatte Mühe, Königin Anna zu beruhigen. In Gesellschaft beherrschte sie sich in vorbildlicher Weise. Doch wenn sie mit Mazarin allein war, überhäufte sie ihn mit Vorwürfen. Nie - ganz bestimmt niemals! - würde sie zulassen, dass die kleine graue Maus aus Turin Ludwigs Gemahlin wurde!
Ehe das geschah, würde sie persönlich eine Revolution entfachen, gegen wen auch immer ... Anna war verzweifelt.
Auch Ludwigs Freundschaft mit Marie fing an, ihr Sorgen zu bereiten. Eines Abends in Dijon hatte sie die beiden beobachtet, wie sie allein auf einer Bank saßen und leise vor sich hin sangen. Maries schöne Stimme hatte sich jener des Königs wunderbar angepasst. Wäre der junge Mann nicht ihr Sohn gewesen, hätte der Anblick der beiden Annas Herz gerührt. Da es aber Ludwig war, der plötzlich so glücklich aussah, wurde Anna von Angst gepackt. „Alles ist misslungen!“, jammerte sie bei Mazarin. „Wir sind am Ende!“
Am Abend nach der Ankunft in Lyon traf man sich zu einem Ball. Der junge Herzog erbleichte, als ihn die Grande Mademoiselle mit ihren großen Zähnen anlächelte. Ludwig hingegen verneigte sich galant vor der kleinen Marguerite, die so schüchtern war, dass sie nicht einmal wagte, ihm ins Gesicht zu blicken. Alle Anwesenden versuchten, Ludwigs Gedanken zu erraten. Doch seine Haltung war untadelig. Königin Anna biss sich auf die Lippen, als ihr Sohn das Mädchen aus den Bergen zum Tanz führte. Marie, die zum ersten Mal seit langem keinen Kavalier zum Tanzen hatte, erhob sich und verließ den Saal.
Mazarin sah das alles. Er war nahe daran, die Hoffnung aufzugeben. Da trat plötzlich Colbert, der große Gesellschaften lieber mied, in den Saal. Er stellte sich hinter Mazarin und flüsterte ihm ins Ohr, es sei so weit.
Mazarin konnte es kaum fassen. Eilig erhob er sich. Vor Aufregung verließen ihn einen Augenblick lang die Kräfte. Er hielt sich an der Tischkante fest, dann folgte er Colbert, der ihm über die Musik und das Stimmengewirr hinweg zurief, ein Fremder sei erschienen - ohne Pass und ohne große Begleitung. Er habe verlangt, sofort den Kardinal zu sprechen.
Es war wirklich ein Bote, und er kam wirklich aus Spanien! Aus Madrid. Geschickt von Seiner Katholischen Majestät persönlich, König Philipp IV. von Spanien!
„Don Antonio Pimentel!“, stellte er sich vor und schlug seine Kapuze zurück.
„Kardinal Jules Mazarin.“
Es war fast dunkel in dem kleinen Zimmer, in das Colbert die beiden Männer geführt hatte. Nur eine einzige Kerze flackerte auf dem Tisch. Die beiden verneigten sich respektvoll voreinander und warteten, bis Colbert das Zimmer verlassen hatte.
Mazarin hätte vor Erleichterung weinen mögen. Don Antonio Pimentel, der Erste Minister des spanischen Königs! Dass Philipp einen Mann dieses Ranges geschickt hatte, zeigte, welche Bedeutung er diesem Gespräch beimaß. Kein verkleideter Bettelmönch war gekommen, kein fahrender Händler oder Sterndeuter. Nein, vom er-sten Wort an, das gesprochen wurde, war man auf gleicher Ebene, ausgestattet mit höchsten Vollmachten.
Den Kardinal überkam eine große Ruhe. In diesem Augenblick erfüllte sich sein Schicksal. Millionen Menschen konnte nun der Friede gebracht werden. Mehr als zwanzig Jahre Krieg würden nur noch eine traurige Erinnerung in der Geschichte zweier Völker sein. Mazarin wusste, dass man ihn den sizilianischen Schurken nannte. Von diesem Augenblick an war er jedoch ein Mann des Friedens. Mit dem Trick eines Taschenspielers hatte er die passende Gelegenheit herbeigezaubert. Nun aber würde er mit Gottes Hilfe maßvoll und verantwortungsbewusst seine diplomatischen Talente und seine Erfahrung nutzen.
Schon einmal hatte er geglaubt, er habe nun ein Anrecht auf die Achtung der Welt: damals, als in Westfalen nach dreißig Jahren Krieg Europa endlich zur Ruhe kam. Mazarin war einer der größten Architekten dieses Friedens gewesen. Trotzdem hatte man ihn weiter beschimpft und im eigenen Land sogar einen Bürgerkrieg entfesselt. Verschlagen und habgierig nannte man ihn. Er wusste es und konnte es doch nicht ändern. Konnte sich selbst nicht ändern. Dabei wäre er so gern ein guter Mensch gewesen!
In dieser Stunde, in der kleinen Kammer in Lyon war er es: ein guter Mensch. Kardinal Jules Mazarin, Giulio Mazarini, war nicht mehr der sizilianische Schurke, sondern der Vater des Friedens. „Wir haben viel zu besprechen, Don Antonio!“, sagte er ohne lange Umschweife. Aus Höflichkeit verwendete er die spanische Sprache.
Sie setzten sich einander gegenüber auf die harten Stühle an dem kleinen Holztisch - zwei Männer, die die Mitte ihres Lebens schon überschritten hatten. Beide waren sie guten Willens und mit der Macht ausgestattet, diesen Willen auch durchzusetzen.
„Ich freue mich über diese Begegnung“, sagte der Kardinal. „Wir mussten lange darauf warten.“
Pimentel nickte. „Auch wir sind froh, dass nun eine neue Zeit beginnen kann“, antwortete er.
Über den Tisch hinweg reichten sie einander die Hände, während drüben im Ballsaal die Regentin von Savoyen daran zu zweifeln begann, dass es die Franzosen ehrlich meinten.
Auf Mazarins Rat hin regelte man die heikle Situation unter Frauen. Im Ballsaal tanzten noch die letzten Unermüdlichen, da bat Anna ihre Schwägerin um eine Unterredung. Beide waren müde von dem langen Tag und dem anstrengenden Abend. „Es ist spät, liebe Schwägerin“, sagte Madame Royale, während sie Anna gegenüber Platz nahm.
Fast noch Kinder waren СКАЧАТЬ