Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli
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Читать онлайн книгу Archiv der verlorenen Kinder - Valeria Luiselli страница 9

Название: Archiv der verlorenen Kinder

Автор: Valeria Luiselli

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783956143366

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СКАЧАТЬ keine Soundscape von uns vieren, die unsere Veränderung im Laufe der Zeit dokumentiert hätte: das Radio frühmorgens, wenn der letzte Nachhall unserer Träume sich mit Nachrichten über Krisen, Entdeckungen, Epidemien und Schlechtwetter vermischte; die Kaffeemühle, die harte Bohnen zu Pulver mahlte; der Gasherd, aus dem Funken sprühend eine kreisrunde Flamme wuchs; das Gurgeln der Kaffeemaschine; die langen Duschen des Jungen und das beharrliche »Los, beeil dich, wir kommen zu spät« seines Vaters; die zögernden, fast philosophischen Gespräche zwischen uns und den beiden Kindern auf dem Weg zur Schule; die langsamen, vorsichtigen Schritte des Jungen durch lange Gänge, wenn er Unterricht schwänzte; das metallische Quietschen beim Anhalten der U-Bahnen und die fast schweigsamen Fahrten in Zugwaggons während unserer täglichen Pendelei zu Feldaufnahmen in Manhattan oder draußen in den Bezirken; das Summen der vollen Straßen, wo mein Mann mit seiner Tonangel vereinzelte Geräusche einfing, während ich mit dem Rekorder in der Hand die Flut fremder Stimmen, Akzente und Geschichten aufnahm; das Anreiben eines Streichholzes, das die Zigarette meines Mannes anzündete, und das lange tiefe Einsaugen des Rauchs beim ersten Zug, gefolgt von einem langsamen gelösten Ausatmen; das merkwürdige weiße Rauschen, das große Kindergruppen auf Spielplätzen produzieren – ein Wirbel aus hysterischem, chaotischem Geschrei –, und dazwischen die herrlich klaren Stimmen unserer beiden Kinder; die unheimliche Stille, die sich nach Einbruch der Dunkelheit über Grünanlagen senkt; das Rascheln und Knistern von trockenen Laubhaufen im Park, wo das Mädchen nach Würmern, nach Schätzen, nach was immer man finden kann gräbt, was meistens nichts ist, weil darunter nur Zigarettenkippen, versteinerte Hundehaufen und kleine, hoffentlich leere Ziplockbeutel sind; das Flattern unserer Mäntel bei Nordwind im Winter; unsere angestrengt strampelnden Füße auf rostigen Fahrrädern entlang des Flusswegs im Frühling; unser schweres Keuchen beim Einatmen der schädlichen Dämpfe aus dem grauen Flusswasser, und die stummen, ätzenden Schwingungen von übereifrigen Joggern und vereinzelten Kanadagänsen, die regelmäßig den Migrationszug ihrer Gefährten verpassen; die Schimpfsalven von Radprofis, alle in voller Montur, männlich und mittleren Alters: »Platz da!« und »Schau nach links!«; und als Antwort unser entweder leise gemurmeltes: »Sorry Sir, sorry Sir« oder laut zurückgerufene, tief empfundene Beleidigungen – leider immer verkürzt oder erstickt im rauschenden Wind; und schließlich die leisen Momente, die wir allein verbrachten, in denen jeder von uns Bruchstücke der Welt auf die bestmögliche Weise sammelte. Der Sound von allem und jedem in unserer Umgebung, der Lärm, den wir beitrugen, und die Stille, die wir zurücklassen.

      ZUKUNFT

      Und dann wurde der Junge zehn. Wir führten ihn in ein gutes Restaurant aus, überreichten ihm seine Geschenke (kein Spielzeug). Ich schenkte ihm eine Polaroidkamera und mehrere Schachteln Film, schwarz-weiß und Farbe. Sein Vater schenkte ihm Ausrüstung für die Reise: ein Schweizer Armeemesser, ein Fernglas, eine Taschenlampe und einen kleinen Kompass. Auf seinen Wunsch wichen wir von der geplanten Route ab und verbrachten den nächsten Tag – unseren ersten Reisetag – im National Aquarium von Baltimore. Dort lebte Calypso, die zweihundertfünfundzwanzig Kilo schwere Schildkröte mit der fehlenden Vorderflosse, von der er nach einem Schulprojekt völlig besessen war.

      An diesem Abend packte mein Mann nach dem Essen seinen Koffer, ich packte meinen, und die Kinder durften ihre packen. Als sie schliefen, packte ich für sie um. Sie hatten die verrücktesten Sachen ausgewählt. Ihre Koffer waren tragbare Katastrophen à la Duchamp: Minikleidung für eine Familie von Minibären, ein kaputtes Laserschwert, eine einsame Inliner-Rolle, Ziplockbeutel mit allen möglichen winzigen Plastikteilen. Ich ersetzte alles durch richtige Hosen, richtige Kleider, richtige Unterwäsche, richtiges Sonstwas. Dann stellten mein Mann und ich die vier Koffer in einer Reihe neben die Tür, plus unsere sieben Schachteln und unsere Arbeitsutensilien.

      Als wir fertig waren, saßen wir im Wohnzimmer und teilten uns schweigend eine Zigarette. Ich hatte ein junges Paar gefunden, an das wir die Wohnung zumindest für den nächsten Monat untervermieteten, und irgendwie gehörte sie ihm schon jetzt mehr als uns. In meinem müden Kopf dachte ich nur an die vielen Umzüge, die diesem vorangegangen waren: als wir vor vier Jahren zu viert eingezogen waren; die vielen Umzüge meines Mannes und meine davor; die Umzüge von Hunderten von Menschen und Familien, die wir für das Soundscape-Projekt interviewt und mitgeschnitten hatten; die der Flüchtlingskinder, deren Geschichte ich nun dokumentieren wollte; und die der letzten Chiricahua-Apachen, deren Geistern mein Mann bald hinterherjagen würde. Alle gehen weg, wenn sie müssen oder können oder gezwungen werden.

      Am nächsten Tag nach dem Frühstück wuschen wir das letzte Geschirr ab, und dann gingen auch wir.

      SCHACHTEL I

      § VIER NOTIZBÜCHER (20 × 15 cm)

      »Über Sammeln«

      »Über Archivieren«

      »Über Inventarisieren«

      »Über Katalogisieren«

      § ZEHN BÜCHER

      Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, Dubravka Ugrešić

      Wiedergeboren, 1947–1963, Susan Sontag

      Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke, 1964–1980, Susan Sontag

      The Collected Works of Billy the Kid, Michael Ondaatje

      Relocated: Twenty Sculptures by Isamu Noguchi from Japan, Isamu Noguchi, Thomas Messer und Bonnie Rychlak

      Rundfunkarbeiten, Walter Benjamin

      Tagebuch der Falschmünzer, André Gide

      Dada aus dem Koffer. Die verkürzte Geschichte der tragbaren Literatur, Enrique Vila-Matas

      Perpetual Inventory, Rosalind E. Krauss

       The Collected Poems of Emily Dickinson

      § ORDNER (FAKSIMILE-KOPIEN, ZEITUNGSAUSSCHNITTE, FRAGMENTE)

      Die Ordnung der Klänge, R. Murray Schafer

      Grafische Darstellung von Walgesängen (in Schafer)

      Smithsonian Folkways Recordings World of Sound Catalog #1

      »Uncanny Soundscapes: Towards an Inoperative Acoustic Community«, Iain Foreman, Organised Sound 16 (03)

      »Voices from the Past: Compositional Approaches to Using Recorded Speech«, by Cathy Lane, Organised Sound 11 (01)

      WEGE & WURZELN

      Buscar las raíces no más que una forma

      subterránea de andarse por las ramas.

       (Die Suche nach den Wurzeln ist nur der latente Versuch, das eigentliche Thema zu umgehen.)

      JOSÉ BERGAMÍN

      Wenn du dich unterwegs verirrst

      Läufst du ins Ungewisse

      FRANK STANFORD

      SARGASSOSEE

      Es ist nach Mittag, als wir schließlich das Aquarium in Baltimore erreichen. Der Junge führt uns durch die Menge direkt zum Hauptbecken, wo die Riesenschildkröte ist. Wir müssen stehen bleiben und zusehen, wie das traurige, СКАЧАТЬ